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Strukturierte Gewalt – Teil 5: Multitools

Wie ein Schweizer Taschenmesser

Gewalt erfordert eine schnelle Entscheidung. Was tust Du, um Dich zu schützen? Dauert die Entscheidung zu lange, dann wirst Du getroffen, bevor Du Dich entscheiden konntest. Mit dem ersten Schlag schüttest Du noch mehr Adrenalin aus. Es tut weh und Deine Wahrnehmung wird verzerrt. Denken wird immer schwieriger und der rationale Verstand wird ausgeschaltet. Zeit ist kostbar.

Wenn Du nur wenige Optionen zur Auswahl hast, dann wirst Du eine sehr schnelle Entscheidung treffen. Das Sprichwort besagt, für den Hammer sieht jedes Problem wie ein Nagel aus. Die Konsequenz daraus ist, dass der Hammer verdammt schnell ist. Wenn es eh nur Nägel gibt, muss ich nicht überlegen. Gewalt ist nicht nur schnell, sondern auch divers. Nicht alles ist ein Nagel und nicht jeder ist ein Hammer. Wir brauchen ein gewisses Set an Alternativen.

Der Werkzeugkasten ist eine Seite der Gleichung und die Entscheidungsfindung ist die andere. Bevor wir das Hicksche Gesetz tiefergehend untersuchen, beschäftigen wir uns mit taktischem Gruppieren. Während ein gewisses Maß an diversen Lösungen notwendig ist, muss dies nicht in einem aufgeblähten Werkzeugkasten enden. Wenn wir Anwendungen trainieren, die mit einer einzigen Wirkung für verschiedene Zwecke eingesetzt werden können, dann verschlanken wir unser Repertoire.

Ein Schweizer Taschenmesser hat mehrere Funktionen integriert. Man kann schneiden, sägen, feilen und und und. Wir wollen eine Schweizer Taschentaktik entwickeln. Ein Werkzeug, das mehrere Funktionen integriert. Ein Multitool.

Zweckorientierung

Die Metapher des Multifunktionswerkzeugs hat auch eine Schwäche. Niemand braucht ein Messer, das gleichzeitig eine Lupe und einen Zahnstocher hat. Es darf nicht zum reinen Gimmick werden. Definieren wir das didaktische Vorgehen als taktisches Gruppieren. Eine Taktik ist das spezifische Problemlösen. Das Gruppieren erleichtert uns das Lernen und das Erinnern. Welche Telefonnummer kannst Du Dir innerhalb von 10 Sekunden besser merken:

873098210 oder 639 774 102

Das Formieren in kleinere Einzelstrukturen erleichtert das Aufnehmen von Informationen. Gehen wir auf die taktische Ebene. Ein Multitool besteht aus drei Aspekten. Wie funktioniert die Anwendung? Wann will ich sie benutzen? Welchen Effekt will ich erreichen? Bauen wir eine Gleichung aus den drei Teilen, dann bekommen wir eine starre Technik. Eine Funktionsweise mit einem Kontext und einem Effekt. Buchstabieren wir jeden Aspekt komplett aus, dann haben wir nicht mehr ein Werkzeug, sondern dutzende. In jeder Technik sind Krafterzeugung, Biomechanik, Statik, Zielanalyse, Mindset, Aufmerksamkeit, Taktik und Strategie vorhanden. Mindestens.

Multitools bilden eine Mittelebene zwischen einer konkreten Technik und dem allgemeinen Prinzip. Multitools sind taktische Werkzeuge. In dieser Rolle dienen sie den zentralen taktischen Fragen:

  • Wie bewege ich einen Menschen (mich oder den anderen)?
  • Wie fixiere ich einen Körper oder Körperteil?
  • Wie verursache ich Schaden?
  • Wie schütze ich mich selbst?

Je mehr Fragen mit einem einzigen Multitool beantwortet werden können, desto besser ist das Werkzeug. Anhängig von der vorliegenden Situation kann das Multitool entweder einen betrunkenen Gegner verletzungsfrei kontrollieren, einen aufdringlichen Passanten auf Abstand halten oder einen aggressiven Angreifer verletzen. Meine Entscheidungsfindung wird extrem vereinfacht, weil ich nur noch das Problem verstehen, aber nicht mehr das Werkzeug auswählen muss.

Am einfachsten ist, zuerst die reine Mechanik zu erlernen. Anschließend kann man einen beispielhaften Kontext mit passendem Effekt einführen. Als Trainer sollte man klar kommunizieren, dass dies nur eine Möglichkeit ist, das Werkzeug zu nutzen. In den folgenden Trainingseinheiten kann man neue Situationen mithilfe desselben Werkzeugs lösen.

Ein klassisches Multitool ist der Speer. Die Anwendung ist am bekanntesten durch Tony Blauers Spear System. Wie viele der taktischen Fragen kannst Du mit dem Speer beantworten?

Anwendungsmöglichkeiten des Speers 1

Anatomische Vorlieben

Ein einziges Multitool wird nicht ausreichen, aber wir verringern unser Repertoire massiv. Persönlich benutze und unterrichte ich fünf Multitools, wobei man über Definitionen und Abgrenzungen streiten kann. Wichtig ist hier wieder die Individualität des Menschen zu sehen. Nicht alle reagieren gleich unter Stress oder können ihre Körper identisch benutzen. Wenn der Speer für Dich nicht funktioniert, dann ist dies irrelevant. Finde ein Multitool, das ihn ersetzt.

Alle denkbaren Einschränkungsfaktoren greifen auch bei den Multitools. Sie sind immer noch fehlbare physische Applikationen von Gewalt. Nichts ist perfekt, aber das ist auch gar nicht das Ziel. Das taktische Gruppieren soll die Diskrepanz zwischen der notwendigen Vielfalt in der Selbstverteidigung und der kurzen Reaktionszeit im Ernstfall verringern.

Dein Training muss mit Deiner körperlichen und mentalen Leistungsfähigkeit kongruent sein. Dafür solltest Du Deine Angstreaktionen und Deine kämpferische Wohlfühlzone identifizieren. Schützt Du Deinen Kopf oder schiebst Du Dich von der Gefahr weg? Willst Du auf Abstand bleiben oder eng ran gehen? Bist Du eher ein Boxer oder ein Ringer? Kannst Du einen Menschen verletzen? Das beste Multitool wird für Dich nicht funktionieren, wenn die Anwendung sich nicht mit den Antworten auf diese Fragen deckt.

Jeder Baustein zählt

Das Bedürfnis nach multiplen Lösungen ist eher eine technische Frage, während die Multitools eher taktischer Natur sind. Der dritte Legostein sind die Prinzipien. Alle drei Bereiche müssen trainiert und integriert werden, damit physische Selbstverteidigung erfolgreich ist. Jede Herangehensweise ist unterschiedlich, aber diese Perspektivenwechsel erlauben effektive Problemlösung.

Die Legosteine beschreiben die Diversität des Werkzeugkastens und wie wir strukturelle Verbesserungen herbeiführen können. Natürlich hat dieses Vorgehen Rückwirkungen auf die Entscheidungsfindung unter Stress. Trotzdem müssen und werden wir Problemanalyse und Lösungsselektion noch tiefergehend betrachten. Wenn ich mich fünf Multitools zwanzig verschiedene Probleme bearbeiten kann, dann muss ich immer noch verstehen, welches der zwanzig Probleme vorliegt und mich entscheiden, welches der fünf Werkzeuge ich nutzen möchte.

Quellenverzeichnis:

  1. BTSUSA: SPEAR System Essential Drills 2010 https://www.youtube.com/watch?v=efhJgokm0Vo (10.12.20).

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