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Vertrauen ist die Grundlage guten Trainings

Gedanken über Didaktik – Teil 6: Vertrauen

Menschliche Fundamente

Vertrauen ist das Bindemittel menschlicher Beziehungen. Ich muss Dir vertrauen, wenn ich mit Dir zusammenarbeiten oder zusammenleben möchte. Jede Gesellschaft basiert auf dem Moment, wo mehrere Individuen einen Vertrag zu schließen, der die folgenden Punkte beinhaltete: Ich bringe Dich nicht um, wenn Du mich nicht umbringst. Ich teile Essen mit Dir, wenn Du Essen mit mir teilst und ich helfe Dir, wenn Du mir hilfst. Vertrauen erlaubt Kooperation, aber es ist äußert diffizil. Wir alle kennen Beispiele von gebrochenem Vertrauen, Misstrauen oder sogar Verrat. Wie immer haben Menschen die Anlage zu gutem und zu schlechtem Verhalten.

Würdest Du in einen Unterricht gehen, in dem Gewalt ausgeübt wird, zu Menschen, denen Du nicht vertraust? Nimm einen Moment, bevor Du antwortest. Training kann körperlich und mental enorm belastend sein. Es bestimmt ein nicht unerhebliches Verletzungsrisiko, je realistischer die Gewalt wird. Vielleicht wirst Du verängstigt oder vielleicht wirst Du verletzt. Wenn Deine Antwort „Ja“ ist, bist Du wahrscheinlich ein selbstbewusster, mit Fähigkeiten und positiven Erfahrungen ausgestatteter Mensch.

Ein solcher Mensch hat die Wissensbasis, um die erlernten Inhalte zu bewerten und hat die Standfestigkeit, um bei Problemen „Nein“ zu sagen. Dieses gefestigte Individuum kann auch aus nicht vertrauenswürdigen Quellen lernen. Ich meine hierbei nicht die Qualität der Information (dazu später mehr), sondern ich meine die Sicherheit des Trainings und die Prioritäten des Trainers. Du kannst vom letzten Arschloch wertvolle Informationen bekommen, aber nur wenn eine gewisse kognitive Distanzierung besteht.

Wer braucht Selbstschutztraining?

Welche Personen beantworten unsere Frage nach Training ohne Vertrauen mit „Nein“? Vermutlich Menschen, die unsicher sind, die Angst haben oder in ihrer Vergangenheit Gewalt erleben mussten. In der Realität fallen die Antworten womöglich komplexer aus, als auf dem Papier. Die schlimmste Konstellation für einen Trainer ist ein Teilnehmer, der alles brav mitmacht, aber aufgrund mangelndem Vertrauen nichts aufnimmt. Von außen wirkt er, wie ein Musterschüler, aber es entsteht kein Mehrwert.

Warum ist für vorbelastete Menschen Vertrauen so wichtig? Wir Trainer müssen den Rahmen herstellen, dass jeder Mensch sich traut Fragen zu stellen, an sich zu arbeiten, über sich hinauszuwachsen. Stellen wir uns vor, ein unsicherer Mensch wurde Opfer eines Angriffs. Nichts Dramatisches, aber genug, um Angst und ein Bedürfnis nach Sicherheit zu wecken. Also wird Selbstverteidigung trainiert. Und dann passiert folgendes im Training:

  • Der Trainer sagt: „Nur Pussys fallen beim ersten Schlag um.“ Der Teilnehmer hört hier, dass er eine „Pussy“ ist und dass er zu schwach ist, sich zu wehren. Traut er sich jetzt noch von seiner Erfahrung zu erzählen?
  • Der Teilnehmende traut sich trotzdem und berichtet. Der Trainer antwortet mit: „Du hast Dich auch völlig falsch verhalten und hättest XYZ machen müssen.“ Lernt der Teilnehmer hier etwas Sinnvolles oder dass er selbst Schuld ist und nur der Trainer hat die wahren Antworten?
  • Jetzt wird XYZ trainiert und zwar so hart, wie der Trainer kann. Als der Teilnehmer kurz vor einem körperlichen Zusammenbruch und/oder einer Panikattacke steht, fragt der Trainer: „Ich dachte, Du willst keine Pussy mehr sein?“ Motiviert dies den Teilnehmer oder nötigt es ihn weiterzumachen, obwohl seine Grenzen überschritten sind?
  • Durch glückliche Fügung wird eine körperliche Verletzung im Training oder eine Retraumatisierung durchs Training vermieden. Tage später wird unser Teilnehmer erneut angegriffen und verteidigt sich mit XYZ. Wie wahrscheinlich ist hier eine erfolgreiche, moralisch und rechtlich legitimierte, taktisch sinnvolle Anwendung?

An keiner Stelle hat unser fiktiver Trainer Vertrauen etabliert, damit unser Teilnehmer wertfrei berichten und adäquat lernen kann. Vertrauensarbeit verhindert Verletzungen, Trainingsnarben, Schuldgefühle, Retraumatisierung, Trainingsabbruch und ermöglicht zielführendes Training.

Als Gegenargument könnte man hier Tough Love, Abhärtung und „Was uns nicht tötet, mach uns stärker“ anführen. Ethisch und logisch meiner Meinung nach nicht hilfreich, kann dieser Ansatz funktionieren, aber nur bei gefestigten Individuen. Zurück zur Überschrift dieses Abschnitts: „Wer braucht Selbstschutztraining?“ Einerseits Gewaltprofis (Polizisten, Soldaten, Sanitäter, etc.), andererseits Opfertypen (durch Erfahrung und/oder Charakter). Welche Gruppe Vertrauen mehr braucht, erklärt sich von selbst.

Safe Space, Smart Content

Jeder Trainer, der in irgendeiner Weise Gewaltprävention oder Gewaltbewältigung unterrichtet, hatte schon Gewaltopfer im Unterricht. Ob es bemerkt wurde, ist eine andere Frage. Ganz wichtig: Nicht jedes Gewaltopfer ist ein fragiles Wesen, das nur mit Samthandschuhen angefasst werden darf. Traumatisierung ist nicht gleich Traumafolgestörung oder konditionierte Hilflosigkeit. Training darf, und stellenweise muss, hart und überfordernd sein, damit es nützlich ist. Wir müssen nur zuvor Vertrauen aufbauen.

Bevor wir über Möglichkeiten der Vertrauensarbeit sprechen, nochmal ein paar Mehrwerte: Viele zivile Teilnehmenden haben keine Gewalterfahrung (was gut ist!), aber somit auch keine Blaupause zum Bewerten des Trainings. Vertrauter Umgang erleichtert das Äußern von Unverständnis, kritischen Fragen oder Unglaubens. Zudem betone ich hier immer, dass Vertrauen nicht blind sein darf, sondern auf kritischem Denkvermögen fußen muss. Einem wahrhaft vertrautem Menschen kann man sagen, wenn er sich irrt. Einer Autorität nicht unbedingt.

Realistische Simulation von Gewalt braucht Angriffe, die mit heftiger Intention ausgeführt werden und eine glaubwürdige Gewaltdynamik. Wird im Training eine Attacke, mit dem Ziel zu treffen ausgeführt in Verbindung mit aggressiver Körpersprache, Beleidigung, etc., dann wirkt der Angreifer wie ein authentischer Bad Guy. Gut für’s Training, aber problematisch für ängstliche, traumatisierte Menschen. Vertrauen schafft den Rahmen für eine realistische Annäherung an die körperliche und emotionale Ausprägung von Gewalt.

Über Mündigkeit

Es gibt kein Patentrezept, um Vertrauen aufzubauen. Dein Charakter, Deine Ausdrucksweise, Dein Wertesystem, Deine Umgangsformen und Dein Gegenüber spielen eine Rolle. Wenn nicht noch viel mehr. Deshalb als erster Tipp etwas Selbstverständliches, sei authentisch. Verstellen ist manipulieren ist das Gegenteil von Vertrauen. Im selben Atemzug: Du versuchst nicht Vertrauen künstlich herzustellen, Du verdienst es Dir.

Ein paar Dinge, die für mich gut funktionieren:

  1. Ich mache mit jedem Teilnehmenden ein Einführungsgespräch. Die wichtigsten Punkte sind: Sicherheit hat oberste Priorität. Alle Übungen sind freiwillig. Du bestimmst Deine Trainingsintensität. Und unverzichtbar: Du schuldest hier niemandem Rechenschaft. Ich mache noch einiges mehr mit diesem Gespräch, aber das sind die Highlights.
  2. Fairness und Gleichbehandlung sind elementar. Wenn der Trainer Favorites hat, dann weil er diese Menschen am meisten mag oder weil die anderem ihm egal sind oder weil es nach dem Training Blowjobs in der Umkleide gibt. Alles nicht akzeptabel. Das bedeutet vor allem, niemand wird vorgeführt wegen „dummer Fragen“ oder dass einer immer für die harte Demo hinhalten muss.
  3. Im Geiste der Fairness steht auch Demut. Als Trainer sollte man auch auf die Ideen und Ansichten der Teilnehmenden hören und nicht das eigene Wort als gottgegeben verkaufen. Ebenfalls darf der Trainer niemals strafen, wenn ein Teilnehmer in bei einer Demo, einer Übung oder im Sparring „besiegt“ hat.
  4. Neutralität: Als Trainer erzähle ich nicht von meinem Privatleben. Das mag man durchaus anders sehen, aber ich möchte von Anfang bis Ende deutlich machen: Mein einziges Interesse im Training besteht im Stärken der Teilnehmenden.
  5. Einwilligung: Gib den Teilnehmenden eine Möglichkeit, die Intensität einer Übung zu regulieren. Ich arbeite gerne mit einer Skala von 1 bis 5. Vor Übungsbeginn darf sich jeder Mensch selbst aussuchen, welchen Schwierigkeitsgrad er braucht.
  6. Abstand wahren und Kontakt vermeiden. Besonders gegenüber dem anderen Geschlecht. Falls im Training sexuelle Beleidigung, oder sogar Übergrifflichkeit simuliert wird, dann muss danach 100 % respektvoller Abstand gehalten werden. Nichts zerstört Vertrauen schneller, als das Gefühl ausgenutzt zu werden. Deshalb außerhalb von Übungen und Erklärungen kein Körperkontakt. Wenn Männer mit Frauen (und andersherum) vorzeigen, dann mit jeder Frau im Raum. Nicht nur mit der Bestaussehenden.
  7. Klare Regeln und Beschwerdemöglichkeiten: Hängt Verhaltensregeln aus. Beschreibt sie den Neuen. Fragt nach, ob es Probleme gibt. Hört zu, falls es welche gibt und handelt dann.

Viele, viele Möglichkeiten und ein Haufen Arbeit. Eine Vertrauenskultur etabliert sich nicht über Nacht, aber die Arbeit ist es wert. Zu guter Letzt habe ich eine Empfehlung. Ich wünschte, ich hatte das Buch schon vor Jahren gefunden, dann hätte ich nicht alles auf die harte Tour lernen müssen: Kaja Sadowksi: Fear is the Mind Killer1.

Quellenverzeichnis:

  1. Kaja Sadowski: Fear is the Mind Killer. How to Build a Training Culture that Fosters Strength and Resilience 2019.

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