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Gedanken über Didaktik – Teil 4: Sicherheit geht vor

Das oberste Gebot

Training kann verschiedene Ziele haben, die alle legitim sind. Egal, ob Selbstverteidigung, Kampfsport oder Kampfkunst, Sicherheit im Training muss die oberste Priorität sein. Es tut weh, Offensichtliches auszuformulieren, aber leider ist offensichtlich nicht immer gleich selbstverständlich. Das Wohlergehen sein Teilnehmer zu bewahren, ist die Kernaufgabe eines Trainers. Außerdem liegt es in seinem eigenen Interesse.

Eine Person besucht Dein Training und erwartet dort kontrolliert angeleitet zu werden. Diese Person hat einen Anspruch darauf, nach dem Training wieder gesund nach Hause zu gehen. Als Übungsleiter wird Dir Vertrauen entgegengebracht und Du musst diesem Vertrauen gerecht werden. Verletzte Teilnehmer haben viele negative Konsequenzen:

  1. Der verletzte Teilnehmer kommt kurzfristig nicht mehr zum Training. Er verliert seinen Lernfortschritt (bis zu einem gewissen Grad) und kann in dieser Zeit nicht weiter arbeiten. Wir wollen aber unseren Teilnehmern möglichst viel Wissen vermitteln. Verletzungsfreies Training ist somit effizient.
  2. Der verletzte Teilnehmer kommt langfristig nicht mehr zum Training. Nicht nur kann diese Person nicht weiter lernen, sondern Du verlierst auch einen Kunden. Finanzielle Interessen sollten nicht im Vordergrund stehen, trotzdem darf man so etwas auch nicht ignorieren.
  3. Jede Verletzung kann dauerhaften Schaden hervorrufen. Unabhängig von der exakten Natur des körperlichen Trainings wollen die allermeisten Trainer ihren Teilnehmer eine bessere Lebensqualität ermöglichen. Fitness, Selbstschutz, Gesundheit durch Bewegung, alles wird durch eine dauerhafte Verletzung kompromittiert.
  4. Deine Reputation als Trainer oder die Deines Studios steht auf dem Spiel. Wie viele Neukunden wirst Du noch bekommen, wenn „hohes Verletzungsrisiko“ in den Google – Bewertungen steht? Keine Kunden, kein Lerneffekt und kein Geld.
  5. Rechtliche oder versicherungstechnische Konsequenzen sind möglich, auch wenn Du hierfür fahrlässig oder mutwillig gehandelt haben musst. Sich mit Trainingssicherheit zu befassen und solide Sicherheitsrituale zu entwickeln, beugt diesen Problemen vor.

Im Bereich der realistischen Selbstverteidigung muss Sicherheit noch höher bewertet werden, als beim reinen Kampfsport. Selbstverteidigung sollte gerade Menschen ansprechen, die eine besonders hohe Gefährdung aufweisen, z.B. Menschen mit bereits bestehenden körperlichen Einschränkungen oder emotionalen Traumata. Diese Personengruppen haben ein erhöhtes physisches und emotionales Sicherheitsbedürfnisse, auch wenn es nicht deutlich thematisiert wird.

Wir trainieren, Menschen zu zerbrechen!

Körperliche Gewalt in jeder Form zu lernen, bedeutet Menschen verletzen zu lernen. Sportlicher Wettbewerb, Bewegungslehre oder realistische Gewaltanwendung zur Selbstverteidigung sieht in den Inhalten und Trainingsmethoden unterschiedlich aus, aber allen ist gemein, dass Gewalt praktiziert wird. Menschen zu zerbrechen, ist wahnsinnig einfach. Die Bewegungen und die Kraftanwendung wäre innerhalb von Minuten beherrscht, meistens stehen nur emotionale Hemmnisse im Weg. Wir wollen aber beibringen, wie man Gewalt effizient benutzt.

Wenn Du eine Trainingsstunde besuchst oder anleitest, in der Schlagen und Schlagabwehr behandelt wurde und kein Teilnehmer wurde verletzt, dann war die Gewalt nicht real. Entweder hat niemand richtig zugeschlagen oder es wurden Sicherheitsartefakte in die kämpferische Bewegung integriert, die jede Verletzung verhinderten. Vielleicht stutzt Du jetzt. Will ich etwa, dass Ihr Euch im Training ernsthaft verletzt? Oder will ich behaupten, Eurer Training wäre nutzloser Unsinn? Beides trifft nicht zu. Ich will Dir nur den Fakt bewusst machen, dass Training immer künstlich ist.

Künstlichkeit im Training ist nicht problematisch, solange man sie nicht vergisst. Funktioniert eine Technik nur, weil ein Artefakt integriert ist, dann ist es eine schlechte Technik. Ist ein Artefakt in eine Technik integriert und der Teilnehmer lernt nur das Artefakt zu benutzen und nicht die Technik, dann ist es schlechter Unterricht. Verdeutlichen wir diese Überlegung an einem Beispiel:

Es wird eine Schlagabwehr gegen einen Faustschlag zum Gesicht trainiert. Wenn der Faustschlag abgestoppt wird, bevor er das Gesicht des Partners trifft, dann trainiert der Schlagende eine extrem schlechte Technik. Er lernt in der falschen Distanz mit falschem Tempo zu schlagen, ohne wahre Intention den Angriff auszuführen und er konditioniert sich darauf, nicht zu treffen. Gleichzeitig kann der Verteidiger eine Abwehrtechnik nutzen, die nur aufgrund der zusätzlichen Distanz beim Angriff funktioniert. Der Block kann völlig ungeeignet sein und nur aufgrund des Artefakts funktionieren. In diesem Fall ist das Abstoppen das Artefakt und die didaktischen Probleme resultieren aus diesem Sicherheitsmechanismus.

Es gibt verschiedene Formen von Sicherheitsartefakten, die in jedem physischen Training integriert sind. Keine dieser Formen ist perfekt, weil sie alle einen Fehler in die Bewegung einbauen. Manche Artefakte sind besser, als andere und alle haben Vor- und Nachteile. Für den Moment reicht es mir, wenn Dir die Künstlichkeit des Trainings zum Erhalt der Sicherheit bewusst wird.

Hearts and Minds

First, you must make an emotionally safe place to practice physically dangerous things. And then you must make a physically safe place to do emotionally dangerous things.

Rory Miller: The Progression 1

Kämpfen bringt Spaß. Nicht umsonst toben, ringen und raufen Kinder. Gewalt bringt nur demjenigen Spaß, der sich zur Gewaltanwendung entschließt. Beim Kämpfen geht es um Kontrahenten, um Gleichwertigkeit. Bei Gewalt geht es um Opfer, um Unterlegenheit. Sich diesem Komplex zu stellen, ist hart. Besonders für die Personengruppen, die ein erhöhtes Opferprofil aufweisen.

Ehrliche Selbstverteidigung ist kein falsches Sicherheitsversprechen. Es gibt Situationen, die sich nicht bewältigen lassen und Menschen, die extrem gefährlich sind. Man kann nicht jedes Problem lösen. Auch Bruce Lee und Rambo in Personalunion sterben. Nicht nur die Bereitschaft über Fehler und Versagen zu sprechen, erhöhen den psychischen Stress. Die realistische Simulation von Gewalt ist emotional sehr hart. Ich spreche hier nicht davon, dass die Angriffe „wie auf der Straße“ stattfinden. Eine realistische Simulation beinhaltet die richtige Körpersprache, Wortwahl, den Tonfall, den situativen Kontext, den emotionalen Zustand des Angreifers (aggressiv, kalkuliert, etc.), Schmerzen und Stress. Je besser Gewalt simuliert wird, desto echter fühlt sie sich an. Unser Hirn reagiert mit emotionalem Druck auf realistisch nachgespielte Gefahren.

Es gibt noch weitere Faktoren, die enormen psychischen Druck im Training erzeugen können. Nicht nur die Abwehr, sondern auch die Anwendung von Gewalt erzeugt massiven Stress. Manchmal ist gewalttätig zu sein viel schwieriger, als ein Opfer zu werden. Die Konsequenzen, wenn man in eine Gefahrensituation gerät, gehen weit über die Möglichkeit des Sterbens hinaus. Wer nur den Tod als mögliche Folge der Selbstverteidigung thematisiert, der verfehlt sein Ziel. Man kann verletzt oder verkrüppelt werden. Man kann vergewaltigt werden. Die eigene Identität kann in Scherben liegen. Alle diese Dinge sind realer und sie in den Fokus zu stellen, erzeugt Angst. Das erhöht sich massiv, wenn bereits traumatische Vorbelastung besteht.

Wenn wir die harten mentalen Dinge angehen möchten, dann muss absolut und unmissverständlich klar sein, dass keinerlei physische Konsequenz daraus entsteht. Wir können nur ernsthaft den Umgang mit schweren körperlichen Verletzungen erlernen, wenn jede Verletzungschance im Training minimiert ist. Wir können nur dann ernsthaft sexuelle Übergriffe oder rassistische Attacken bewältigen, wenn die Simulation im Training auf der Basis von Vertrauen und Sicherheit stattfindet. Stell Dir vor, es wird sexuelle Belästigung und mögliche Abwehrtaktiken besprochen. Nach dem Training hört eine Teilnehmerin, wie die Männer in der Umkleide sexistische Witze machen und den Sexappeal der Teilnehmerinnern bewerten. Was glaubst Du, wie fühlt sich die Teilnehmerin jetzt? Kann sie das Gelernte nun noch anwenden? Wird sie wieder ins Training kommen?

Dasselbe gilt umgekehrt auch für körperliche Gefahren. Wenn Genickhebel trainiert werden, dann muss ich absolut darauf vertrauen, dass mein Partner auf mich aufpasst und mich nicht wahrhaftig verletzen möchte. Diese Form von Sicherheit ist zwar weiter verbreitet, aber es kommt auf die Balance zwischen physischer und psychischer Gefährdung bzw. Sicherheit an. Gerade die emotionale Sicherheit wird massiv unterschätzt. Training soll die Sicherheit erhöhen, nicht die Angst.

Keine Kompromisse

Die Bedeutung von Sicherheit für den Erfolg des Selbstverteidigungstrainings und die möglichen Konsequenzen aus Sicherheitsverstößen führen zu der hohen Bedeutung. Sicherheit ist das Wichtigste im Training und hier darf es keine Abstriche geben. Bestimmte Prozeduren sollten in jedem Training erfolgen. Ein Beispiel hierfür ist, am Anfang des Trainings zu fragen, ob es allen gut geht oder ob bestimmte Probleme angesprochen werden müssen. Alleine hierdurch erhöht sich die Sicherheit.

Sicherheitsprozeduren oder -maßnahmen sollten zum Ritual werden. Immer gleich ausgeführt an der immer gleichen Stelle. Dadurch können alle Teilnehmer mit darauf achten und diese Handlungen auch in andere Trainingsgelegenheiten übernehmen. An Rituale erinnern wir uns leichter und folgen diesem Rezept somit auch bessern. Es lohnt sich an dieser Stelle zu betonen, dass Sicherheit niemals 100 % ist. Unfälle und Fehler passieren, aber solide Rituale verringern die Chance. Ein Pilot geht mit seiner Crew und der Flugleitung vor jedem Start eine Sicherheitsliste durch. 2 Erstelle ein solches Ritual für Dein Training.


Quellenverzeichnis:

  1. Rory Miller. The Progession. In: Chiron Blogspot vom 10.02.2014 http://chirontraining.blogspot.com/2014/02/the-progression.html (17.11.2020).
  2. Michael Kückelmann: Praxis Checklisten – Fliegen wie die Profis https://www.aerokurier.de/praxis/praxis-checklisten-fliegen-wie-die-profis-fliegen-wie-die-profis/ (02.01.2022).

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