Zum Inhalt springen
Gewalt trifft Männer und Frauen unterschiedlich

Gewaltdynamik – Teil 7: Gender Violence Gap

Der leidige Unterschied

Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Das ist unser rechtlicher Standard und unser moralischer Anspruch. In den letzten Jahren wurde gesellschaftlich und politische viel daran gearbeitet, die noch existierenden Barrieren zwischen den Geschlechtern abzubauen.

Immer noch verdienen Frauen in Deutschland durchschnittlich 18 % weniger als Männer pro Stunde.1 Die strukturellen sozialen Unterschiede sind mächtig. Trotzdem wird viel daran gearbeitet, diese Macht zu brechen. Ob gesetzliche Vorschriften, wie eine Frauenquote der richtige Weg ist, darüber lässt sich streiten. Zweifelsohne hat der gesellschaftliche Wandel einen Effekt. Obwohl 2021 nur jede fünfte Vorstandsposition eines Dax-Konzernes mit einer Frau besetzt war, so wurden mehr Frauen als jemals zuvor in Führungspositionen berufen.2

Jetzt fragst Du Dich vielleicht, was das alles mit Gewalt zu tun hat. Die Antwort darauf ist simpel. Genau wie unsere Gesellschaftsstrukturen war/ist auch Gewalt durch tiefgreifende Geschlechterunterschiede geprägt. Nur im Gegensatz zur Wirtschaftswelt ist dieser Unterschied nicht im Rampenlicht und Lösungen sind nicht in Sicht. Wie können wir Selbstverteidigung derart gestalten, dass Frauen ebenso guten Schutz bekommen, wie Männer?

Selbstverteidigung für die Straße

Die „Straße“ dient oft als Chiffre für die Gewaltsituationen, auf die wir uns vorbereiten. Zum einen liegt dies an der Einfachheit des Problems. Ich als starker, selbstbewusster Mensch gerate ohne eigene Schuld in eine Notlage, aus der ich mich heroisch herauskämpfe. Dieses Narrativ verfängt. Klar gibt es auch Menschen, die in einer Umgebung, Kultur oder Gruppe leben, in der Gewalt an der Tagesordnung steht. Dann passieren oft diese Gewaltmomente „auf der Straße“.

Für die meisten von uns gilt das nicht. Wer oft in Gewalt verwickelt ist, ohne dafür bezahlt zu werden, der hat ein Problem mit seinem Charakter oder seinem Lebensstil. Zum anderen wird Selbstverteidigung oft von Menschen unterrichtet, deren Job Gewalt beinhaltet. Türsteher, Polizisten und ehemalige Kriminelle hatten und haben starken Einfluss auf die inhaltliche Ausrichtung und Entwicklung des Selbstverteidigungstrainings.

Berücksichtigt die „Straße“ die Gewaltlagen, denen Frauen oftmals begegnen? Selbstverständlich werden Frauen im öffentlichen Raum überfallen und geschlagen, allerdings sehr viel seltener als Männer. 2019 gab es laut Polizeilicher Kriminalstatistik 23765 Raubdelikte mit männlichen Opfern und nur 9007 mit weiblichen. Mit 65 % gilt für beide Geschlechter, dass meistens keine Beziehung zwischen Täter und Opfer bestand.3 Es ist wahrscheinlich, dass sehr viele dieser Verbrechen im öffentlichen Raum bzw. auf der „Straße“ stattfinden. Klassische Selbstverteidigung also.

In dem Moment, wo wir uns Körperverletzungen anschauen, wird der Anfang der Gender Violence Gap deutlich. Während Männer 350295 zum Opfer physischer Gewalt wurden, erlitten 216221 Frauen Körperverletzungen. Das Verhältnis männlicher und weiblicher Opfer ist im Vergleich zum Raub vom Faktor 2,6 auf 1,6 gesunken. Mit anderen Worten, es ist etwas ausgeglichener. Mit einer krassen Ausnahme.

Etwa die Hälfte der Übergriffe auf Männer erfolgte ohne, dass Täter und Opfer sich kannten. Wiederum klassisches SV-Territorium. Bei den Frauen auf der anderen Seite erfolgten 48 % der Angriffe durch den Ehemann bzw. den Lebenspartner. Bei Männer nur in 12 %! Dieser Unterschied ist heftig.4

Im Bett mit dem Täter

Am deutlichsten zutage treten die Unterschiede bei den versuchten Tötungsdelikten und den schweren sexuellen Übergriffen. 291 getötete Männer und 254 getötete Frauen im Jahr 2019. Von den reinen Opferzahlen ist dies das ausgeglichenste Verhältnis, von der Täterschaft nicht. 70 % der Frauen wurden von ihrem Partner ermordet!

Bei den sexuellen Übergriffen ist der Täterschaft wieder vergleichbarer. Mit 45,7 % bei den Männern vs. 48 % bei den Frauen war der Täter ein Bekannter. Allerdings gab es 8006 weibliche Opfer, denen „nur“ 519 männliche Opfer gegenüberstehen.5

Wir widmen uns gleich möglichen Schlussfolgerungen aus dieser Überlegung, aber davor ein Wort der Warnung. Statistiken sind nur ein Werkzeug. Es gibt Dunkelfelder (z.B. besonders bei männlichen Vergewaltigungsopfern) und die gesamte Masse sagt nichts über den Einzelfall aus. Aber wir können Tendenzen erkennen, wie Gewalt funktioniert und unser Training danach ausrichten.

Geschlechtergerechte Selbstverteidigung

Frauen machen seit langem einen großen Teil der SV-Szene aus. Gut so. Männer sind nicht die einzigen, die beruflich oder privat mit Gewalt umgehen müssen oder auch einfach nur Spaß am gewaltaffinen Training haben. Natürlich sollte jede Frau die klassische Selbstverteidigung lernen. Im Sinne einer Ausrichtung „auf die Straße“, nicht im Sinne traditioneller Kampfkünste. Schließlich werden auch Frauen ausgeraubt oder von Fremden geschlagen.

Wir müssen auf der anderen Seite starten, die Beziehungsebene und Missbrauch lösungsorientiert im Training zu behandeln. Kämpferische Lösungen hierfür sind rar gesät. Kann man den Vergewaltiger von sich runter treten? Bestimmt! Wird es sehr viel schwieriger, wenn es der Lebenspartner seit fünf Jahren ist, den man morgen früh wieder sehen muss? Absolut!

Aufmerksamkeit für Warnsignale können geschult werden. Selbstwertsteigerung durch Autonomie und Kompetenzerwerb sind klare Stärken des SV-Trainings. Grenzen setzen, verbal und nonverbal, ist Gold wert. Kämpferische Skills bieten hierfür eine Rückfallebene.

Selbstverteidigung kann sehr viel für Männer und Frauen tun, um die Wahrscheinlichkeit zum Gewaltopfer zu werden zu verringern. Wir müssen dabei nur ehrlich sein und die Grenze unserer Möglichkeiten als Trainer aufzeigen und Verständnis für tatsächliche Gewaltsituationen besitzen.

Quellenverzeichnis:

  1. „Gender Pay Gap 2021: Frauen verdienen pro Stunde weiterhin 18 % weniger als Männer“ Pressemitteilung Nr. 088 des Statistischen Bundesamts, 07.03.2022 https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2022/03/PD22_088_621.html (29.04.2022).
  2. „Frauenquote zeigt Wirkung. Jeder fünfte Dax-Vorstand ist weiblich“ In: Manager-Magazin 07.02.2022 https://www.manager-magazin.de/unternehmen/frauenquote-und-fuepog-ii-jeder-fuenfte-dax-vorstand-ist-weiblich-a-7dfc7e34-7359-4fd0-856e-429b5809e7e1 (29.04.2022).
  3. Vgl. Tabelle 3 Opfer-Tatverdächtigen-Beziehung nach Deliktgruppen und Geschlecht, vollendete Delikte 2019. In: Dritter Periodischer Sicherheitsbericht 2021 https://www.bka.de/DE/AktuelleInformationen/StatistikenLagebilder/PeriodischerSicherheitsbericht/periodischersicherheitsbericht_node.html (29.04.2022), S. 50.
  4. Siehe Fußnote 3.
  5. Siehe Fußnote 3.

Neuste Artikel:

Vertrauen ist die Grundlage guten Trainings

Gedanken über Didaktik – Teil 6: Vertrauen

Martin VödischJun 20, 20228 min read
Vertrauensarbeit verhindert Verletzungen, Trainingsnarben, Schuldgefühle, Retraumatisierung, Trainingsabbruch und ermöglicht zielführendes Training
Aufmerksamkeit muss realistisch trainiert werden.

Nicht Sehen, sondern Beobachten – Teil 2: Basislinien und Anomalien

Martin VödischMrz 29, 20225 min read
Ich bin vor ein paar Tagen in eine mittel volle Bahn gestiegen und von einem Ende zum anderen gegangen. Teilweise, weil ich am Zielort somit näher am Ausgang war und teilweise aus taktischen Gründen. Vermeidung ist schließlich der beste Selbstschutz und Aufmerksamkeit die beste Taktik dafür.
Jahresrückblick 2021

2021

Martin VödischFeb 19, 20226 min read
OK, dass 2021 kein einfaches Jahr war, dürfte jeder mitbekommen haben. Ich habe persönlich zum Glück nicht unter der Pandemie leiden müssen, aber wenn eine hochinfektiöse Krankheit grassiert, dann ist es schwierig seine Existenz als selbstständiger Selbstverteidigungstrainer aufzubauen.
Nicht sehen, sondern Beobachten – Teil 1: Über Aufmerksamkeit

Nicht sehen, sondern Beobachten – Teil 1: Über Aufmerksamkeit

Martin VödischFeb 28, 20214 min read
In quasi jedem Selbstverteidigungskurs wird einem beigebracht, aufmerksam zu sein. Die zugrundeliegende Überlegung ist, schwierig zu konternde Angriffe im Vorfeld zu vermeiden.

Neuster Artikel:

Vertrauen ist die Grundlage guten Trainings

Gedanken über Didaktik – Teil 6: Vertrauen

Martin VödischJun 20, 20228 min read
Vertrauensarbeit verhindert Verletzungen, Trainingsnarben, Schuldgefühle, Retraumatisierung, Trainingsabbruch und ermöglicht zielführendes Training
Aufmerksamkeit muss realistisch trainiert werden.

Nicht Sehen, sondern Beobachten – Teil 2: Basislinien und Anomalien

Martin VödischMrz 29, 20225 min read
Ich bin vor ein paar Tagen in eine mittel volle Bahn gestiegen und von einem Ende zum anderen gegangen. Teilweise, weil ich am Zielort somit näher am Ausgang war und teilweise aus taktischen Gründen. Vermeidung ist schließlich der beste Selbstschutz und Aufmerksamkeit die beste Taktik dafür.
Jahresrückblick 2021

2021

Martin VödischFeb 19, 20226 min read
OK, dass 2021 kein einfaches Jahr war, dürfte jeder mitbekommen haben. Ich habe persönlich zum Glück nicht unter der Pandemie leiden müssen, aber wenn eine hochinfektiöse Krankheit grassiert, dann ist es schwierig seine Existenz als selbstständiger Selbstverteidigungstrainer aufzubauen.
Nicht sehen, sondern Beobachten – Teil 1: Über Aufmerksamkeit

Nicht sehen, sondern Beobachten – Teil 1: Über Aufmerksamkeit

Martin VödischFeb 28, 20214 min read
In quasi jedem Selbstverteidigungskurs wird einem beigebracht, aufmerksam zu sein. Die zugrundeliegende Überlegung ist, schwierig zu konternde Angriffe im Vorfeld zu vermeiden.
Strukturierte Gewalt – Teil 7: Gewalteffekte

Strukturierte Gewalt – Teil 7: Gewalteffekte

Martin VödischFeb 20, 20218 min read
Kämpfen ist eigentlich ganz simpel. Die Erzeugung und Übertragung kinetischer Energie in einen anderen Körper.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.