Die eine Antwort
Selbstverteidigung muss effizient sein. Das ist unsere wichtigste Aufgabe. Gewalt ist eine komplexe und chaotische Situation, die simple Lösungen erfordert. Jedes Training muss daran gemessen werden, wie schnell die Teilnehmer lernen, sich zu schützen. Die Zeit ist immer knapp und es gibt viele Inhalte, die besprochen werden müssen. Jetzt haben wir ein didaktisches Problem: Sollen wir eine sinnvolle Lösung für ein Problem anbieten oder mehrere Alternativen aufzeigen?
Oberflächlich betrachtet, scheint dies kein schwerwiegendes Problem zu sein. Eine kleine (und stark vereinfachte) Beispielrechnung verdeutlicht das Problem:
Gehen wir von 100 Dingen aus, die im Training erlernt werden sollen. Dies beinhaltet alle Fähigkeiten, von Deeskalation über Schlagmechanik bis zum Bodenkampf. Gehen wir weiterhin davon aus, dass jede der 100 Fähigkeiten innerhalb von 30 Minuten erklärt, trainiert und grundlegend verstanden wird. Dann haben wir 50 Stunden an Unterricht, was bei einem Trainingspensum von einer Stunde pro Woche ziemlich genau einem Jahr entspricht. Bauen wir jetzt zwei bis fünf Alternativen für jede Fähigkeit ein, dann sind wir im Maximum bei fünf Jahren Training.
Ich habe die Bestandteile dermaßen heruntergebrochen, dass die Überlegung nicht mehr subtil ist. Wenn Selbstverteidigungstraining effizient sein muss, dann sind fünf Jahre Training viel zu lang. Viele zusätzliche Stellschrauben verändern das Ergebnis, z.B. die Wiederholungsrate oder das Trainingspensum. Die exakten Inhalte sind mir hier egal. Ich will nur verdeutlichen, dass die Frage nach Varianz und Alternativen einen spürbaren Einfluss auf den Unterricht hat.
Ein möglicher Ansatz ist, Multitools zu trainieren. Damit meine ich Werkzeuge, die für verschiedene Probleme genutzt werden können. So würde die benötigte Unterrichtszeit massiv verkürzt. Allerdings möchte ich hier in die andere Richtung gehen und erklären, warum Alternativen trotz der zeitlichen Ineffizienz wichtig sind.
Faktoren
Keine einzige Lösung, egal ob eine Technik, eine Taktik oder ein Prinzip, hilft jedes Mal. Völlig unabhängig von der Brillianz der Überlegung oder der Effizienz in der Anwendung, alles kann scheitern. Es gibt keine 100 %. Wenn der Lösungsansatz scheitert, dann hat man zwei Möglichkeiten: Dasselbe nochmal probieren oder etwas anderes benutzen. Alleine aus der Möglichkeit des Scheiterns heraus, ist es sinnvoll mehrere Lösungen zu haben.
Die folgenden Faktoren können zum Versagen einer geeigneten Technik führen. Darüber hinausgehend sind sie Perspektiven, die aufzeigen, warum bestimmte Techniken für bestimmte Personen von vorneherein nicht infrage kommen:
- Gesundheit: Mit steigendem Alter (oder steigender Trainingserfahrung) steigen auch die körperlichen Gebrechen. Klassiker, wie Bandscheibenvorfälle oder ausgekugelte Gelenke können stark einschränken, was der Körper leisten kann. Wer an Asthma leidet, kann vielleicht nicht weglaufen. Wie soll man zuschlagen, wenn man einen gebrochenen Arm hat? Die Möglichkeiten, wie gesundheitliche Probleme das technische Repertoire begrenzen können, sind vielfältig. Selbstverteidigung sollte aber nicht nur den gesunden, jungen Menschen zur Verfügung stehen.
- Leistungsfähigkeit: Selbst bei bester Gesundheit bestimmten einige Merkmale, was wir leisten können. Mit einer Körpergröße von 1,50 Metern braucht man keine Technik trainieren, bei der man über die Arme des Gegners greifen muss. Kraft, Geschwindigkeit und Ausdauer können verbessert werden, aber nur in einem gewissen Rahmen. Eine 17-Jährige mit 50 Kilogramm Körpergewicht kann nicht soviel Kraft aufbringen, wie ein 30-Jähriger mit 120 Kilogramm. Es bringt nichts, eine Anwendung zu lernen, die nur in einer Gewichtsklasse funktioniert.
- Hemmungen/Grenzen: Was man körperlich leisten kann, ist nicht dasselbe, was man mental auch umsetzen kann. Es reicht nicht aus physische Fähigkeiten zu beherrschen, wenn das psychische Vermögen nicht vorhanden ist. Hemmungen können aufgehoben werden. Viele Menschen mögen es nicht, einem Fremden ins Gesicht zu fassen. Das kann man trainieren. Manche Hemmungen sind so stark oder tief verwurzelt, dass sie zu einer unterschiebbaren Grenze werden. Es hat keinen Nutzen, Schläge zur Kehle zu lernen, wenn die mentale Bereitschaft fehlt, einen Menschen zu töten. Das Vermögen ist keine Frage des Mindsets oder der Aggression im Ernstfall, sondern es sind die psychischen Gegebenheiten, die berücksichtigt werden müssen.
- Präferenzen: Unabhängig von Fähigkeit und Vermögen hat jeder Mensch auch bestimmte Vorlieben. Diese können auf bestimmten Hemmungen, bevorzugten Taktiken oder der individuellen Angstreaktion basieren. Ein Trainer kann eine Lösung präsentieren, die sehr eng an den Gegner herangeht und in der absoluten Nahdistanz funktioniert. Diese Lösung kann extrem effizient und sinnvoll sein. Wenn ein Teilnehmer aber eine längere Distanz bevorzugt und lieber mit Schlägen und Tritten arbeitet, dann werden beide Lösungen nicht koexistieren.
- Kontext: Die speziellen Gegebenheiten einer Situation können auch clevere Lösungsansätze neutralisieren.
- Umgebung: Auf Distanz zu gehen, funktioniert in einer Kneipentoilette schlecht. Tritte sind nicht die beste Wahl, wenn man auf rutschigem Untergrund steht. Die Beispiele sind unendlich und die Folgen eindeutig. Je nach Umgebung funktionieren bestimmte Dinge einfach nicht mehr.
- Gegnerische Aktion: Einige Anwendungen sind davon abhängig, dass der Gegner in einer bestimmten Postion ist. Der Angreifer handelt nicht nach einem Skript. Wenn eine Griffbefreiung davon abhängt, dass man einen stabilen Stand hat, dann wird sie nicht mehr funktionieren, sobald der Angreifer die eigenen Beine wegtritt. In diesem Fall sollte eine Alternative vorliegen.
- Gegnerischer Zustand: Ist der Angreifer extrem motiviert oder erfahren, dann ändert sich die Bedrohungslage. Steht er unter extremem emotionalem Stress oder unter Drogeneinfluss, dann ändert sich sein Schmerzempfinden und sein rationales Denken. Die Verfassung des Gegners bestimmt, welche Lösungen Erfolg haben können.
- Recht: Selbstverteidigung ist eine rechtliche Handlung. Das bedeutet, die eigenen Handlungen müssen legal sein. In bestimmten Situationen besteht eine Einschränkung dessen, was erlaubt ist. Die Erforderlichkeit und die Gebotenheit der Gegenwehr sind die Leitlinien. Im Falle, dass man sich verteidigen muss, aber den anderen nicht verletzen braucht, muss eine Anpassung der Lösung erfolgen. Dieselbe Situation könnte auch mit einer anderen rechtlichen Einschätzung bedingen, das schwerste Gewalt beim selben Angriff legal ist. Ein Problem kann zwei Lösungen erfordern.
- Zufall: Jeder kann Glück oder Pech habe, der Angreifer und der Verteidiger. Für diesen Faktor kann man schlecht planen, aber er spielt trotzdem eine wichtige Rolle.
Training, Basar – Style
Wir haben jetzt eine Vielzahl von Faktoren, die gegen eine einzige Lösung für ein Problem sprechen. Jeder Mensch hat eine individuelle Leitungsfähigkeit, jede Situation kommt mit speziellen Limitierungen. Es ist sinnvoll, dass eine Verteidigung flexibel und adaptiv trainiert wird, damit der Verteidiger sich an die Besonderheiten anpassen kann. Das bedeutet, jedes Individuum braucht mehrere Lösungsansätze für ein Problem.
Zusätzlich muss ein Trainer diverse sinnvolle Lösungen anbieten, damit jeder Teilnehmer für sein einzigartiges Gemisch aus körperlicher und mentaler Verfassung eine passende Antwort findet. Selbstverteidigung muss ein Alleskönner sein, weshalb keine singuläre Linie an Techniken überzeugend ist. Im Training ist ein Wechselspiel aus Angebot und Nachfrage entscheidend.
Die Anpassung an die Gegebenheiten ist eine Seite der Medaille. Auf der anderen Seite sind Überlegungen, wie wir Training und Anwendung effizienter gestalten können, damit wir der Vielfalt an Gefahren gerecht werden.