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Gedanken über Didaktik – Teil 3: Hoher Einsatz, wenig Zeit

Wir tragen Verantwortung

Ein Gruppenleiter ist immer für das Wohlergehen seiner Gruppe verantwortlich, schließlich hat er die Aufsicht oder sogar eine Fürsorgepflicht. Das ist ein No-Brainer. Wenn wir über Gewalt sprechen, dann geht die Verantwortung weit darüber hinaus. Fokussieren wir uns zuerst auf Training, dass vom Anspruch her auf Selbstverteidigung ausgerichtet ist. Vielleicht fällt Dir das Wort „Anspruch“ ins Auge. Unterricht, der tatsächliche Gewaltkompetenz vermittelt kommt seiner Verantwortung natürlich eher nach. Leider gibt es viele Bereiche, die behaupten Selbstverteidigung zu lehren, aber alles andere tun. Das lässt sich nicht an Systemen festmachen, sondern eher an den einzelnen Lehrern. Ich habe desaströse Krav Maga- und hervorragende Tai Chi-Selbstverteidigung gesehen, aber das ist nur meine Erfahrung.

Wer seine Methodik als Selbstverteidigung darstellt, der muss sich auch an dem Anspruch messen lassen. Die meisten Teilnehmer kommen aus zwei Gründen ins Training:


1. Ich habe Angst und möchte vorbereitet sein.
2. Mir ist etwas passiert und es darf nicht noch einmal passieren.

Die wenigsten Teilnehmer haben das Wissen oder die Erfahrung, was sie lernen müssen, um effektiv auf Gefahrensituationen vorbereitet zu sein. Wenn Selbstverteidigung auf der Packung draufsteht und das Ganze irgendwie mit den bereits bestehenden Konzeptionen von Gewalt übereinstimmt, dann wird das Label oft geglaubt. Das hat eine enorme Konsequenz. Die besondere Verantwortung besteht nicht nur in den tatsächlichen Inhalten, alleine die Darstellung des Trainings beeinflusst die Bewältigungschancen für reale Gewalt.

Kein Mensch kann sagen, wann welche Gefahrensituation auftritt und keine Methode kann alles verhindern oder abwehren. Vielleicht wird ein Teilnehmer auf dem Nachhauseweg nach seinem ersten Training überfallen, vielleicht besucht eine Teilnehmerin einmal im Jahr einen Selbstverteidigungskurs und trainiert nicht weiter. Das eine ist unglücklich, das andere ungeschickt. Trotzdem ist beides existent. Selbstverteidigungstraining muss also in der kürzesten Zeit den bestmöglichen Schutz vermitteln. Man muss sich bewusst machen, dass ein jeder Trainer immer wieder an diesem Ideal scheitern wird und es trotzdem wieder probieren muss.

Neben dem extremen Zeitdruck haben wir noch ein zweites Dilemma, das Risiko. Alles, was wir erwähnen, demonstrieren und lehren wird von einem unserer Teilnehmer in der Realität benutzt werden. Gewalt ist komplex, weshalb keine 100 % – Antworten existieren. Wir haben aber die Schuldigkeit, so effizient, wie möglich zu sein. Ein Boxtrainer kann seinen Schülern Mist erzählt, dann gibt es einen verlorenen Kampf im Ring und eine gebrochene Nase. Nicht schön, aber auch kein Weltuntergang. Wenn ein Selbstverteidigungstrainer seinen Schülern Mist erzählt, dann kämpft der Schüler vielleicht mit dem Junkie, der ihn überfällt, statt sein Geld abzugeben. Die Konsequenzen kannst Du Dir selbst ausmalen.

Training muss Gut Sein

Gehen wir von folgendem aus: Die Teilnehmer haben bestenfalls holzschnittartige Kenntnisse realer Gewalt, die Zeit ist immer zu knapp und das Risiko im Ernstfall ist sehr hoch. Daraus kann nur eine Schlussfolgerung geben: Wir müssen unser Training so gut, wie möglich machen. Das gilt auf diversen Ebenen: Inhaltlich, didaktisch, kommunikativ, organisatorisch. Dir fallen bestimmt noch weitere ein.

Neben der qualitativen Steigerung gibt es eine zeitliche Dimension. Man kann nicht einmal eine Fortbildung besuchen oder sich einmal Gedanken machen und dann stoppen. Das Streben nach Verbesserung sollte ein lebenslanges Projekt sein. Mal abgesehen davon, dass jeder Lehrer auch ein Schüler bleiben sollte und dass Lernen Spaß macht, ist es unsere Pflicht. Wer sich nicht kontinuierlich verbessert, der kommt seiner Verantwortung nicht nach.

Nicht jeder kann oder muss alles lernen, ganz zu schweigen davon, einen Bereich zu meistern. Sich zu spezialisieren ist nicht nur legitim, es ist effizient. Wer niemals mit Kindern arbeiten möchte, muss sich nicht diese besondere Didaktik aneignen. Je nach Zielgruppe ergeben sich Bereiche, die großer Aufmerksamkeit bedürfen und solche, die man eher vernachlässigen kann. Fokussierung widerspricht dem grundlegenden Ideal nicht.

Der Trainer kann sich fortbilden und neue Fähigkeiten erlernen bzw. alte verfeinern. Eine andere Möglichkeit der Qualitätssteigerung bezieht sich auf die Strukturierung des vorhandenen Materials. Welche Inhalte werden als erstes, zweites, drittes gelehrt? Wie kann man Erklärungen noch deutlich formulieren? Gibt es Punkte, die aus dem Programm entfernt werden sollten?

Verbesserung erfordert viele Baustellen und ist auch eine Frage der persönlichen Prioritäten. Wichtig ist mir, dass jeder Selbstverteidigungstrainer sich seiner Verantwortung bewusst ist und ihr gerecht wird. Es ist nicht wichtig, wie exakt dies erfolgt. Als nächste führe ich einige Punkte auf, die meiner Meinung nach erwähnt werden müssen. Einerseits für alle Trainer, die sich ihren Pflichten stellen wollen und andererseits für alle Teilnehmer, die ihr Training besser bewerten wollen. Die Auflistung ist nicht komplett oder besonders gewertet. Das sind nur Dinge, über die ich mir Gedanken mache.

Für Trainer

Jede charakterliche Komposition ist individuell. Es geht nicht darum, hier einen Idealmenschen zu konstruieren, an den sowieso niemand heranreicht. Ich möchte nur einige Attribute aufführen, die unverzichtbar sind, um unserer Verantwortung entsprechend zu handeln. Unverzichtbar bedeutet in diesem Kontext nicht, dass Trainer ohne diese Merkmale sofort entfernt werden müssen. Es demonstriert lediglich, an welchen Stellen eventuell Handlungsbedarf besteht.

  • Demut: Erkenne an, dass Du nicht alles weißt. Ein Mann kann nicht wissen, wie eine Frau Gefahren wahrnimmt. Trainiert ein Mann eine Frau, dann basiert dies immer auf Überlegungen aus zweiter Hand. Ebenfalls funktioniert nicht alles. Sprich Probleme oder Fehlerquellen offen an.
  • Reflexion: Was kannst Du und was nicht? Was musst Du lernen? „Wenn Du Dich und den Feind kennst, brauchst Du den Ausgang von hundert Schlachten nicht zu fürchten“ gilt auch fürs Training.
  • Ehrlichkeit: Kommuniziere Schwächen und versteck Unwissen nicht. Wen jemand eine Frage hat, die Du nicht beantworten kannst, dann schwafel nicht vor Dich hin. Sag, dass Du es nicht weißt und nach einer Antwort suchen wirst.
  • Authentizität: Als friedlicher Mensch kann man vermutlich sehr gut Deeskalation vermitteln, aber hohe Intensitätslevel der Gewaltanwendung sollte man anderen überlassen. Andersherum kann ein Trainer, der gerne aus seinen glorreichen Kneipenschlägereien berichtet, Deeskalation nicht überzeugend lehren.
  • Kooperation: Es gibt sehr wenig Probleme, die ein Raum voll mit schlauen Menschen nicht lösen kann. Beziehe die Gruppe ein, frag nach Ideen und gib Anerkennung, wenn jemand eine bessere Lösung als Du präsentiert. Gleiches gilt für andere Trainer. Verweise auf Kollegen, die sich in einem Bereich besser auskennen.
  • Integrität: Man kann jungen Frauen keine Selbstverteidigung beibringen und gleichzeitig anzügliche Witze machen. Verkörpere die Werte, die Du Deiner Gruppe beibringen möchtest. Du hast Verantwortung, werde ihr gerecht.

Für Teilnehmer

Hier gilt alles, was ich für die Trainer aufgeführt habe, natürlich aus der anderen Richtung. Ist Dein Trainer demütig, reflektiert, ehrlich, authentisch, kooperativ und integer? Denk daran, dass an diesen Eigenschaften vielleicht gerade hart gearbeitet wird, deshalb lege keinen Idealzustand zur Bewertung fest, sondern frage nach Entwicklung. Generell sind Fragen eines Deiner wichtigsten Werkzeuge. Je neuer Du in einem Training bist, desto mehr Fragen solltest Du stellen. Frag den Trainer und frag die anderen Schüler.

  • Kritisches Denken: Hinterfrage das Training. Ist es effektiv, angebracht, rational, etc.? Selbst ohne Erfahrungswerte kannst Du trotzdem die Erklärungen und Argumente analysieren. Bist Du überzeugt?
  • Kritik: Hinterfragen bedeutet auch kritisieren. Wie geht Dein Trainer mit Nachfragen, Kritik und Widerspruch um? Wirst Du respektiert oder ignoriert? Welches Klima herrscht in der Gruppe? Unterstützen die anderen Deine Nachfragen oder schließen sie Dich aus?
  • Vertrauen: Das hohe Risiko der Selbstverteidigung und die physische oder psychische Gefährdung im Training erfordert ein hohes Maß Vertrauen in den Trainer. Hat Dein Trainer Vertrauen verdient?
  • Gleichberechtigung: Werden alle Kursteilnehmer gleich behandelt? Gibt es einen Unterschied zwischen Männern und Frauen, zwischen Erfahrenen und Anfängern oder zwischen den guten und den anstrengenden Teilnehmern? Kein Trainer mag alle seine Schüler gleich, aber er hat trotzdem die Pflicht ihnen gleich viel beizubringen.
  • Grenzen: Gerade im Bereich Selbstverteidigung ist der Trainer vergleichbar mit einem Therapeuten. Lehrer und Schüler sind keine Freunde. Das Training soll den Teilnehmer verbessern und dafür muss der Trainer manchmal die Komfortzone verschieben. Das ist nur mit gesunden Grenzen in der Trainer-Teilnehmer-Beziehung möglich.

Ein Fazit

Verantwortung funktioniert in zwei Richtungen. Der Trainer muss das bestmögliche Training anbieten, aber der Teilnehmer muss das bestmögliche Training suchen. Wir sollten Verantwortung aus beiden Richtungen nicht von uns schieben, sondern annehmen. Alle hier genannten Überlegungen sollen anregen. Nichts hiervon ist komplett oder absolut, aber wir müssen uns mit dem Folgen unserer Handlungen beschäftigen.

Vielleicht ist Dir aufgefallen, dass ich nicht thematisiert habe, welche Inhalte erforderlich sind, damit Selbstverteidigungstraining die notwendige Qualität wahrt. Was gelehrt wird, ist natürlich ebenso wichtig, wie die Frage nach der Art des Unterrichts. Ich glaube allerdings, dass zu viel über Inhalte und zu wenig Verantwortung gesprochen wird.

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