Die Ausgangslage
Wir trainieren für Gewalt und Gewalt ist von extremem Stress geprägt. Es gibt wenigen Ereignisse, die derartigen körperlichen und mentalen Stress ausüben. Selbst ohne physiologische Verletzungen durch Schläge oder sogar Waffen wird im Anblick der Gefahr die akute Stressreaktion des Körpers aktiviert. Adrenalin und andere Hormone fluten den Körper und schalten auf Überlebensmodus um. Also auch ohne tatsächlichen Kampf wirst Du komplett unter Stress gesetzt.
Mit den psychischen Aspekten geht jeder anders um. Variablen, wie Vorerfahrung, Charakterstärke, Schmerztoleranz, Empathie, Verletzungsgrad oder die Anwesenheit anderer Personen beeinflussen den Grad an emotionaler Belastung. Auch die Verarbeitung des Erlebten nach dem Ende der Gefahr kann immense psychologische Konsequenzen nach sich ziehen. Zusätzlich zum physiologischen Stress und zur traumatischen Erfahrung muss auch der Stress durch körperliche Schäden berücksichtigt werden.
Jede Form physischer Gewalt hat das Potenzial für Verletzungen und Schmerzen. Ignorieren wir für den Moment die Belastungen nach dem Konflikt, egal ob eine Traumafolgestörung oder ein Knochenbruch, so haben die körperlichen Effekte von Gewalt trotzdem einen starken Einfluss. Im Wechselspiel mit der körpereigenen Stressreaktion und dem psychischen Trauma bilden physische Verletzungen ein Hochstress-Event. Die Gewalt, die wir zur Selbstverteidigung nutzen, muss diesem Hochstress entsprechend funktionieren.
Intensität, Frequenz und Variabilität
Das didaktische Werkzeug, um den Stress einer Gewaltsituation zu simulieren und sich daran zu gewöhnen, ist Druck. Wir können Druck auf viele verschiedene Arten ins Training integrieren, aber die beiden Hauptarten sind physischer und psychischer Druck. Je höher der Druck ist, desto größer ist die Verletzungsgefahr. Sicherheit muss immer die oberste Priorität sein.
Druck sollte, wie alle Trainingselemente immer der Zielgruppe und dem Lernziel entsprechend sein. Ein Einsteigerkurs für Menschen mit Gewalterfahrung muss anders sein, als eine Fortbildung für Türsteher. Langsame Steigerung des Drucks und wiederholtes Kontrollieren auf Effekt und Sicherheit sind die wichtigsten Regeln.
Wenn eine Übung mit Druck ergänzt wird, dann ist es ein Drill. Ich will an dieser Stelle nicht auf die didaktische Anwendung von Stress im Training eingehen, sondern auf die Erfordernisse an die Anwendung von Gewalt. Was wir im Ernstfall tun, muss unter Druck funktionieren und gleichzeitig Druck auf den Gegner ausüben. Angreifer und Verteidiger sind beide Menschen, deshalb funktioniert Druck in beide Richtungen.
- Intensität: Physischer oder psychischer Zwang muss intensiv sein, dass bedeutet, er muss mit Härte, Geschwindigkeit und Intention erfolgen. Du lernst nur dann, einen realistischen Schlag abzuwehren, wenn der Trainingspartner Dich mit Kraft auch wirklich treffen will. Für Simulationen oder Szenarios ist psychischer Druck besonders wichtig. Geschwindigkeit und Härte sind hier weniger relevant als die Intention. Die nachgespielte Gewalt muss sich real anfühlen.
- Frequenz: Bezeichnen wir jede Aktion, die Stress verursacht als Stressor. Es reicht nicht aus, einen einzigen Stressor zu nutzen. Als Einführung in Training unter Druck oder zu einem speziellen Lernziel ist dies sinnvoll, aber zur Abbildung realer Gewalt brauchen wir eine hohe Frequenz an Stressoren. Einerseits ist es unrealistisch, dass Du nur einmal geschlagen wirst und andererseits verändert sich der psychische Stress mit der überforderten Wahrnehmung und der physische Stress mit den wiederholten Treffer bei multiplen Schlägen. Wir können ebenfalls körperliche und mentale Stressoren verknüpfen.
- Variabilität: Der Wechsel von Stressoren ist aus mehreren Gründen enorm wichtig. Menschen lernen durch Wiederholung, also können wir mit einem bekannten Stressor besser umgehen, als mit einem unbekannten. Die Gegenseite vom Lerneffekt ist die Ungewissheit. Wenn ich nicht weiß, was gleich passieren wird, dann steigt mein Stresslevel. Austauschen von Stressoren ist sinnvoll für den Realismus des Trainings und für eine effiziente Didaktik.
Ich habe bis hier her beschrieben, wie wir Druck im Training gestalten, damit unsere Verteidigung funktionell ist. Auch in der Offensive sollen Deine Anwendungen heftig, wiederholt und abwechselnd sein. All die negativen Effekten, mit denen wir im Training umzugehen lernen, werden dann auf Deinen Angreifer gewirkt.
Ziel: Realismus
Das erste Trainingsziel von hohem Stress habe ich schon angesprochen. Eine reale Gefahrensituation ist von sehr hohem Druck geprägt, deshalb brauchen wir ebenfalls hohen Druck innerhalb einer Simulation. Wichtig ist, nicht Druck mit Realismus gleichzusetzen. Hartes Training kann sich sehr real anfühlen, ohne eine realistische Gewaltdynamik nachzuspielen. Inszeniere zuerst eine realistische Situation und setze dann den Druck dazu, wenn Du Selbstverteidigung lernen möchtest.
Ziel: Resilienz
Auch mit unrealistischen Settings kann Druck sehr praktische Effekte haben. Wir können die physische und psychische Widerstandskraft aufbauen. Gerade weil Gewalt so stressig ist, müssen wir den Stress aushalten können. Zu lernen, Schläge wegzustecken oder angeschrien zu werden, ist keine direkte Selbstverteidigung. Wir wollen ja nicht geschlagen oder angeschrien werden und falls es doch passiert uns sofort dagegen behaupten. Trotzdem kann die Resilienz durch das Aushalten von Druck gesteigert werden. Hier muss man vorsichtig sein, dass die Teilnehmer nicht Passivität erlernen. Das Lernziel sollte klar kommuniziert werden und idealerweise sollte nach der Resilienzübung dieselbe Situation aktiv bewältigt werden.
Ziel: Adaption
Gewalt ist chaotisch, es können unfassbar viele Dinge passieren und die eigenen Aktionen können immer scheitern. Du brauchst einen Plan, um das vorliegende Problem zu lösen, aber Du musst auch fähig sein, von diesem Plan abzuweichen. Die Komplexität der Situation kann eine improvisierte Lösung erfordern. Wenn Deine Gewaltanwendung im Training immer erfolgreich ist, dann wirst Du niemals improvisieren müssen. Die Improvisation darf nicht vom Trainer forciert werden. Damit zurechnen widerspricht einer wahren Anpassung an die situativen Faktoren. Ein Partner, der hohen Druck ausübt, zwingt Dich, Deine Handlungen anzupassen.
Druck kann Menschen brechen!
Ich habe die Bedeutung von Sicherheit bereits angesprochen, aber es lohnt sich, dies noch einmal zu betonen. Jeder Mensch hat einen Bruchpunkt. Jeder! Irgendwann werden wir alle von Schmerzen, Verletzungen, Angst oder Überforderung überwältigt. Im Training diese Grenzen zu verschieben ist wichtig und mächtig, aber man kann auch Schaden anrichten.
Das Ganze hat nichts mit Härte, Toughness oder Nehmerqualitäten zu tun, irgendwann ist einfach zu viel. Als Trainer müssen wir die Teilnehmer unter Druck setzen und fordern, aber auch auf ihre Grenzen achten. Als Teilnehmer müssen wir auf uns selbst achten und ehrlich ansprechen, wenn es zu viel wird. Diese Warnung zum Ende ist wichtig. Druck ist notwendig, damit unser Training funktioniert, aber wir müssen menschliche Limits respektieren.