Denk an den Kontext!
Realitätsbasierte Selbstverteidigung ist die Standardbezeichnung der SV-Industrie. Damit soll meistens ausgedrückt werden, dass man mit dem Training auf reale Gewalt vorbereitet wird. Wie effizient das Training ist, hängt stark von den Inhalten und dem Trainer ab. Es gibt verschiedene Ansätze, die sinnvoll auf reale Gewalt vorbereiten. Mir geht es an dieser Stelle nicht um taktische Effizienz, sondern tatsächliche Verankerung in der Realität.
Jede Gewalttat, die wir erleben und überstehen, nimmt nur einen winzigen Bruchteil unserer Lebenszeit ein. Sowohl vor, als auch nach dem Ereignis verläuft unser Leben alltäglich. Diese Kontextualisierung hat mehrere Dimensionen und eine der wichtigsten das Recht. Gerade weil Gewalt ein Teil der Alltagsrealität ist, wird eine gesellschaftliche Reaktion auf die Gewalt erfolgen.
Wir leben in einem Rechtsstaat. Das bedeutet, dass unser Zusammenleben durch Gesetze geregelt ist, denen alle folgen müssen. Verstöße dagegen werden durch Polizei und Justiz verfolgt und bestraft. Es ist ein gefährlicher Irrglaube zu denken, dass dieser Zusammenhang bei Selbstverteidigung nicht gilt. Natürlich ist der Rechtsstaat ein theoretisches Konzept, dass niemals hundertprozentig umgesetzt ist. Es wird immer Fehler, Schlupflöcher und blinde Flecken geben. Trotzdem gilt: Je intensiver die Gewalt in einer Situation ist, desto wahrscheinlicher ist eine rechtliche Aufarbeitung.
Straftaten und Legitimation
Gewalt ist illegal. Nur der Staat darf Gewalt ausüben, darauf hat er ein Monopol. Soweit die Theorie. Es gibt viele Ausnahmen und die Realität sieht noch einmal anders aus. Kein Boxer, Tattoowierer oder Arzt kann seinen Beruf ausüben, ohne einen anderen Menschen zu beschädigen. Die Einwilligung des Anderen legitimiert die Körperverletzung.
In einer Konfliktsituation wird der Kontrahent jedoch nicht einwilligen, verletzt zu werden. Wenn Du einen anderen Menschen schlägst, dann begehst Du eine Straftat. In den meisten Fällen wird dies eine „einfache“ Körperverletzung sein. Das muss man sich einmal in aller Konsequenz bewusst machen: Alles, was Du im Kampfsport, Kampfkunst oder Selbstverteidigungstraining gelernt hast, wäre bei einer Anwendung im Alltag eine Straftat.
Ich kann schon den Einspruch hören und natürlich hast Du recht. Wenn Deine Rechtsgüter bedroht sind, dann darfst Du Dich auch mit Gewalt verteidigen. Das nennt man Notwehr und ist der Kern jeder Selbstverteidigung. Die Bedrohung oder Verletzung z.B. Deiner körperlichen Unversehrtheit legitimiert den Einsatz von Gewalt. Dieses Verhältnis wollte ich herausarbeiten und vermitteln: Gewalt ist grundsätzlich illegal und wird nur unter spezifischen Umständen legitimiert.
Es ist Dein Job
Wenn Du Dich in einer Gefahrensituation verteidigst und auf das Notwehrrecht berufst, dann sagst Du folgendes: Ja, ich habe eine Straftat/Körperverletzung begangen, aber es war in Ordnung, weil ich angegriffen wurde. Immer dann, wenn Notwehr als Legitimation genutzt wird, musst Du auch Deine Beteiligung an der Situation erwähnen. Falls geurteilt wird, dass keine Notwehrlage bestand, dann hast Du trotzdem eine Körperverletzung begangen und dies auch gestanden.
Viele Gefahrensituationen finden ohne Zeugen statt. Es kann sein, dass Aussage gegen Aussage steht. Es liegt an Dir zu begründen, warum Du in Gefahr warst, warum Du handeln musstest und warum die gewählte Handlung notwendig war. Denk daran, dass Du mit dem Notwehrbezug bereits eine Straftat zugegeben hast. Jetzt musst Du eine Begründung liefern.
Vielleicht untersuchen Polizei und Staatsanwalt die Situation so gründlich, dass die Notwehrlage bestätigt wird. Vielleicht aber auch nicht. Du musst Dein Handeln begründen können. Weißt Du, was das Notwehrrecht aussagt? Stimmt Dein Training mit dem rechtlich Erlaubten überein? Wie kannst Du Deine Perspektive verständlich artikulieren? Wenn Du bereits etwas trainierst und diese Fragen nicht beantworten kannst, dann hast Du jetzt Arbeit vor Dir.