Die Gewaltpyramide in der Praxis
Die Aufschlüsselung qualitativ unterschiedlicher Gewaltformen mit der Gewaltpyramide kann unterschiedliche Abläufe sehr gut erklären, führt aber in der Praxis schnell zu Problemen. Das Modell ist nicht als Leitpfaden zur Anwendung innerhalb einer Gefahrensituation gedacht, sondern als theoretische Darlegung zur Differenzierung von Gewalt. Die wichtigste Botschaft ist, dass normales menschliches Verhalten auch mit Gewalt durchgesetzt werden kann, egal ob Essensbeschaffung, Gruppenzugehörigkeit oder Freizeitgestaltung. Millers Modell eignet sich hervorragend zur Fortbildung und zur Entwicklung von Lösungsstrategien.
In der akuten Praxis hilft die Gewaltpyramide jedoch wenig. Handelt der Täter aus einem Zugehörigkeitsbedürfnis oder möchte er sein Ansehen steigern? Aus beiden Bedürfnissen kann eine ähnliche Form von Gewalt entspringen. Es in der Gefahrensituation nicht hilfreich, dass zugrundeliegende Bedürfnis einer Gewaltsituation zu identifizieren. Zusätzlich können aus einem Bedürfnis auch verschiedene Gewaltformen entstehen.
Wir müssen die grundlegenden Charakteristika schnell erkennen, damit wir die angebrachten Lösungsstrategien auch anwenden können. Die Gewaltpyramide erklärt, aber sie identifiziert nicht. Wir brauchen eine Methode, die innerhalb kurzer Zeit verlässliche Indizien liefert, mit welcher Gewaltform wir es zu tun haben. Ich nutze hierfür den Dreisatz der Gewalt.
Distinktive Unterschiede
Wir können drei Grundmuster verschiedener Gewaltformen beschreiben, die sich in zentralen Punkten unterscheiden. Mit dem Dreisatz können wir nicht die exakte Dynamik einer Situation darlegen, aber der Dreisatz bietet einen heuristischen Ansatz. Eine Heuristik ist eine Faustregel: „Wenn X passiert, dann befinde ich mich in Situation Y“.
Die entscheidende Trennung zwischen den drei Mustern liegt im Ziel der jeweiligen Gewaltform. Wenn ich das Ziel bestimmen kann, dann kann ich auch eine passende Lösung finden. Die drei Ziele sind Status, Reputation und Ressourcen.
- Status (=) ist die Hierarchie unter zwei gleichrangigen Personen derselben sozialen Gruppe
- Reputation (+) ist der Ruf einer Person innerhalb einer bestimmten Gruppe.
- Ressourcen (>) sind Wertsachen, der Körper oder die Psyche einer Person.
Betrachten wir zuerst jedes Ziel detaillierter und analysieren danach die Faustregel, die wir in einer Gefahrensituation nutzen wollen. Wir haben drei Unterkategorien: Die Methode beschreibt die Struktur des Konflikts. Wie beginnt die Auseinandersetzung, welche Taktiken werden genutzt und welche Rolle spielt die Partizipation des Opfers? Der Ablauf charakterisiert die Methode hinsichtlich der Art und Weise, wie der Konflikt abläuft. Welche Geisteshaltung steht hinter der Aktionen und welche Effekte sollen erreicht werden? Der Kontext stellt dem Zusammenhang zwischen dem Konflikt und der Umwelt her. Der wichtigste Faktor ist die Funktion des Publikums.
Unter Gleichen
Hierarchie muss nur unter Gleichen hergestellt werden. Wenn zwei Personen desselben Geschlechts und derselben sozialen Gruppe einen vergleichbaren Status innerhalb der sozialen Gruppe haben, dann kann die unklare Hierarchie mittels sozialer Gewalt geklärt werden. Der Coolste der Gruppe kämpft nicht mit dem Mobbingopfer um Status. Ein Erwachsener greift kein Kind oder ein Mann keine Frau zur Statusklärung an. Natürlich kommen diese Dinge vor, aber hier geht es nicht mehr um den Status.
Zentral für dieses Muster ist, dass der Konflikt zwischen beiden Beteiligten stattfindet. Die Methode des Konflikts ist ein Duell. In jedem Duell gibt es eine Reihe von Regeln, die meistens auf einem nicht ausgesprochenem, sozialen Kontrakt bestehen. Der Gedanke ist, wenn ich Ansehen in meiner sozialen Gruppe gewinnen will, dann muss ich Stärke zeigen, aber gleichzeitig meinen Charakter beweisen. Der Kern eines Duells ist, dass beide Parteien die gleichen Chancen haben. In der Realität wird dies nie exakt sein, aber es ist ein riesiger Unterschied, ob sich zwei Personen gegenseitig schlagen oder eine der anderen ein Messer in den Rücken rammt.
Der Ablauf eines Statuskonfliktes ist konfrontativ. Es beginnt mit einer wahrgenommenen Provokation oder einer verbalen Herausforderung. Die Annäherung bietet beiden Kontrahenten die Möglichkeit, sich auf den Konflikt einzustellen. Ohne irgendeine Rechtfertigung kann es kein Duell geben. Manchmal ist die Rechtfertigung nur im Kopf des Aggressors, aber sie ist notwendig. Niemand denkt von sich selbst als Arschloch. Der Kontext ist, dass die Gewalt vor Publikum stattfindet. Gibt es keine Zeugen des Statusgewinns, dann hat der Sieg quasi nicht stattgefunden.
Mehr
Im Gegensatz zum Status spielt bei der Reputation das Verhältnis zwischen Täter und Opfer keine Rolle. Es geht um die Beziehung zwischen dem Täter und seiner Gruppe. Die Mitgliedschaft zu oder Ruf in einer Gruppe kann mit Gewalt erworben bzw. gesteigert werden. Hierzu werden Opfer außerhalb der Gruppe gesucht, damit die Gewalt nicht kontraproduktiv wird. Töten sich die Gangmitglieder gegenseitig, um ihr Ansehen zu steigern? Das würde die Gruppe insgesamt schwächen. Töten sie ein Mitglied einer anderen Gang (Polizisten können auch als eine Art Gang gesehen werden)? Vielleicht. Der Ruf steigt auf jeden Fall, aber die Konsequenzen können dramatisch sein. Töten sie einen Unbeteiligten, dann beweisen sie ihre Härte ohne das extreme Konsequenzen für die Gruppe entstehen.
Die Methode ist eine Show. Es muss deutlich werden, dass der Gewalttäter skrupellos, unberechenbar oder auch nur zu Gewalt fähig ist. Der Ablauf muss demonstrativ sein. Wenn die Jugendclique als Aufnahmeritual hat, etwas im Supermarkt zu klauen, wer hat dann eine bessere Reputation: Derjenige, der heimlich eine Packung Kaugummi klaut oder derjenige, der sich zwei Flaschen Wodka schnappt, über den Tresen springt und den Sicherheitsmann beim Flüchten wegrammt? Der Kontext ist, dass die Tat für die eigene Gruppe stattfindet. Die eigene Gruppe ist ein spezielles Zielpublikum. Sie können der Tat beiwohnen oder durch Zeugen oder Zeitungsartikel informiert werden. Die Tat zielt nicht auf das Opfer und nur indirekt auf vorhandenes Publikum ab. Die Tat wird für die Gruppe begangen. Zusätzlich kann die Tat auch von der gesamten Gruppe begannen werden. Reputationsgewalt kann auch das Ansehen des Kollektivs steigern.
Größer als
Bei Ressourcenerwerb geht es immer um Effizienz. Der Bezug zwischen Täter und Opfer ist nicht vorhanden. Damit meine ich nicht, dass sich Täter und Opfer völlig unbekannt sein müssen. Es besteht keinerlei sozialer Bezug zwischen beiden. Anders gesagt hat der Täter keine Empathie für sein Opfer. Die kann ebenfalls bei der Reputation der Fall sein, aber hier geht es um Kontrolle. Der Täter will mit Gewalt einen Besitz des Opfers erlangen. Wertsachen rauben, den Körper vergewaltigen oder das Leben nehmen folgen demselben Tatmuster. Die Motivationen und zugrundeliegende Bedürfnisse unterscheiden sich, aber die Taten sind extrem ähnlich.
Die Methode ist eine Jagd. Das Opfer wird an zwei Kriterien ausgewählt. Bietet es die gewünschte Ressource? Sind die Risiken gering genug? Der Übergriff erfolgt mit gnadenloser Effizienz. Aus diesem Grund werden viele Raubüberfälle mit reiner Einschüchterung verübt. Es geht schneller und hat geringere Risiken als physische Gewalt. Bei der Jagd sind Jäger und Beute völlig ungleich. Ein guter Jäger gibt der Beute keine Chance und schlägt dann zu, wenn der Erfolg bereits gewiss ist. Der Ablauf ist eine Elimination, womit ich nicht meine, dass diese Gewalt immer tödlich ist. Aber die Planung, Annäherung und Ausführung der Tat erfolgt versteckt und asymmetrisch. Der Täter wird sein Opfer nicht vorwarnen und alle Vorteile auf seine Seite ziehen. Der Kontext der Ressourcengewalt ist, dass sie isoliert vom Rest stattfindet. Das bedeutet nicht zwangsläufig eine dunkle Gasse oder eine einsame Joggingstrecke. Das Opfer kann auch innerhalb einer Menge isoliert sein, wenn es psychisch kontrolliert wird und die Menschen abgelenkt sind. Wichtig ist, dass die Tat ohne Publikum funktioniert.
Eine vereinfachte Checkliste
Das ist der zusammengefasste Dreisatz der Gewalt und die Tabelle dient als Ausgangspunkt für unsere Heuristik:
Jedes Gewaltmuster hat drei Kriterien. Wenn eine Situation zwei von drei Merkmalen aufweist, dann kannst Du Dir relativ sicher sein, womit Du es zu tun hast. Hast Du jemanden, der Dich verbal provoziert und anscheinend zu einem Duell herausfordert, dann überprüfe den Ablauf und den Kontext der Situation. Gibt es ein konfrontatives Element? Hast Du vielleicht den anderen angerempelt oder angeschaut? Ist Publikum vorhanden und wie reagiert es auf die Situation? Ist es tatsächlich Statusgewalt, dann wird der andere warten, bis Du auf die Konfrontation eingehst und das Publikum wird neutral zuschauen.
Allerdings könnte der Aggressor auch versuchen, etwas zu demonstrieren. Dann wird er die mangelnde Konfrontation Deinerseits ignorieren. Das Publikum wird ebenfalls an der Situation teilhaben. Entweder beobachten die Gruppe, wie ihr neustes Mitglied versucht Reputation aufzubauen oder sie sind bereit einzugreifen, wenn Du auf den Köder eingehst. Die Gruppe ist nicht mehr neutral und die Situation ist nicht mehr gleichwertig.
Findet ein Duell in einer einsamen Gegend ohne zeugen statt und der Aggressor winkelt seinen Oberkörper an und versteckt eine Hand, dann liegt eher ein Jagdverhalten vor. Zwar könnte auch hier noch Reputationsgewalt vorliegen, aber diese Unterscheidung spielt hier keine Rolle mehr. Wenn Du in einer Gefahrensituation bist, dann analysiere schnell die drei Faktoren:
- Methode: Gleichwertig, niedermachend oder asymmetrisch?
- Ablauf: Gegenseitig, eskalierend oder ablenkend?
- Kontext: Neutrales, einseitiges oder isoliertes Publikum?
Um fair zu bleiben, ist diese Heuristik keinesfalls perfekt. Sobald Du zwei von drei Kriterien bestimmt hast, kannst Du handeln. Deine Analyse wird nicht perfekt sein. Es gibt Anomalien, wie psychische Ausnahmezustände, Konflikte mit Vorgeschichte oder Konflikte über längere Zeit, bei denen sich die Dynamik ändert. Der Dreisatz kann Dir aber unter hohem Stress eine Handlungsempfehlung bieten, wie Du heil aus der Situation herauskommst.
Abbildungsverzeichnis:
- Martin Vödisch: Der Dreisatz der Gewalt, 2020.