Verständnis ist Effizienz
Der Wesenskern der Selbstverteidigung ist Effizienz. Diese Medaille hat zwei Seiten. Erstens muss die Anwendungsseite, also der Komplex aus Aufmerksamkeit, Taktiken und Werkzeugen im Ernstfall erfolgreich sein. Zweitens geht daraus hervor, dass die Didaktik ebenfalls sinnvoll strukturiert und optimiert sein muss. Die Lehre soll die Fähigkeiten vermitteln. Ineffizienter Unterricht hindert die Effizienz der Anwendung. Mindestens.
Meine Lehrphilosophie ist, die Teilnehmer wie mündige Menschen zu behandeln. Das entspringt meiner Überzeugung, dass die charakterliche Bildung einen starken Schutzeffekt aufbaut. Ein Nebeneffekt ist die Steigerung der Lehreffizienz. Wenn die Teilnehmer die Methoden und Übungen nachvollziehen können, dann werden sie eigenständiger im Verfolgen der Unterrichtsziele.
Lernen funktioniert auf vielen Ebenen gleichzeitig. Welche Inhalte werden mit welcher Methodik vermittelt? Wie interagieren verschiedene Inhalte? Was ist der Einfluss von Lehr- und Lerntypen? Wie wird der Inhalt vom Teilnehmer angenommen und welche Verständniseffekte sollen erreicht werden? Die Komplexität menschlicher Entwicklung ist immens. An dieser Stelle möchte ich darauf eingehen, welchen Zweck die einzelnen Übungsformen verfolgen und was die wichtigsten Charakteristika sind.
Warum brauchen wir Diversität?
Verschiedene Menschen lernen auf verschiedene Arten. Manche brauchen eine gute Erklärung und manche müssen einfach ausprobieren. Eine Vielfalt an Übungsformen kann somit verschiedene Lerntypen ansprechen. Während einige Inhalte nur theoretischer Natur sind, brauchen andere Aspekte das praktische Anwenden, damit Kontext entsteht. Zusätzlich existieren drei Lernebenen: Inhalte müssen zuerst verstanden, dann zu einer automatischen Reaktion konditioniert, um abschließend mit bereits bestehenden Fähigkeiten integriert zu werden.
Nur eine Art zu lernen ist genauso unzureichend, wie nur eine Art Nahrungsmittel zu essen. Als Trainer sollte man die eigenen Inhalte mit einem passenden Übungstypen kombinieren oder man passt die Übung den Teilnehmern an. Wenn das eigene Repertoire sowohl inhaltliche, als auch didaktische Freiräume bietet, dann kann man jeder Zielgruppe ein individuelles Konzept bieten. Auch als Unterrichtsteilnehmer sollten didaktische Überlegungen verstanden werden, weil die Effizienz dadurch erhöht wird.
Die folgenden Übungsformen sind nicht in Stein gemeißelt. Es ist mein Vokabular, damit ich meine Lehre ausarbeiten kann. Manche der Bezeichnungen könnten auch synonym benutzt werden, beschreiben aber inhaltlich verschiedene Übungen. Es geht hier nicht um die Inhalte der einzelnen Übungen, sondern um die didaktischen Grundstrukturen. Ich werde an dieser Stelle nur auf zentrale Überlegungen eingehen und die Formen voneinander abgrenzen. Die Details der einzelnen Übungsform werde ich später ausarbeiten.
I: Unterricht
Die Vermittlung von theoretischen oder praktischen Inhalten kann im klassischen Frontalunterricht oder in jeder Form von (medialer) Präsentation erfolgen. Die Erkenntnis der Teilnehmer erfolgt hier über das Zuhören, Beobachten und Reflektieren des präsentierten Materials, nicht durch die eigene Anwendung. Unterricht wird oft für theoretische Themen genutzt oder zur Demonstration einer praktischen Anwendung.
Obwohl die Teilnehmer eher eine passive Rolle einnehmen, kann eine interaktive Dimension hinzugefügt werden. Die einfachste Herangehensweise hierfür ist, den Zuhörern Fragen zu stellen und die Antworten mit in den Unterricht einzubinden. Diese Übungsform ist ein unerlässlicher Standard in jedem Gewalt-bezogenen Training, weil die fokussierten Techniken zuerst demonstriert werden müssen, bevor die Teilnehmer sie selbst anwenden.
II: Training
Nachdem ein Inhalt, wie z.B. eine Technik zur Schlagabwehr demonstriert wurde, sollen die Teilnehmer diese Technik selber praktisch anwenden. Das ist trainieren. Mit einer hohen Wiederholungszahl werden die inhaltlichen Überlegungen und technischen Nuancen in der Anwendung erlernt. Ohne das Vormachen der Technik wissen die Teilnehmer nicht, was sie tun sollen. Ohne das Trainieren der Technik können die Teilnehmer die Technik nicht anwenden. Deshalb kann man aus Videos keine physische Selbstverteidigung lernen. Man muss trainieren.
Fortgeschrittene Teilnehmer können bei bekannten Inhalten den Unterricht und das Training überspringen, weil sie die Technik bereits verstanden haben. Sie agieren auf einer höheren Lernebene, weil sie entweder konditionieren oder integrieren. Bei neuen Inhalten oder neuen Teilnehmern wird per Training zuerst verstanden, was getan werden soll. Neben der hohen Wiederholung kann hier auch intensives Coaching erfolgen oder Fehler besprochen werden.
III: Spiel
Menschen lernen sehr effizient, wenn sie spielen. Das gilt definitiv auch für Erwachsene. Ein Spiel ist durch ein Regelwerk charakterisiert. X ist erlaubt und Y ist verboten. Innerhalb dieses Rahmens dürfen die Spieler frei agieren und selbst entscheiden, wie sie vorgehen wollen. Zusätzlich braucht ein Spiel ein Ziel, auf das die Spieler hinarbeiten können. Spiele können sowohl kooperativ, als auch kompetitiv sein. Je nach Gruppe kann beides nuützlich sein.
Spielen sollten Spaß bringen und Erfolg belohnen, ohne eine Niederlage hart zu bestrafen. Das Spielfeld sollte einigermaßen eben sein. Es geht nicht darum eine realistische Abbildung von Gewalt aufzubauen, sondern um das spielerische Lernen von Fähigkeiten. Training ist die angeleitete und strukturierte Anwendung einer Fähigkeit und Spielen ist experimentieren. Entdeckt ein Teilnehmer eine Anwendung von alleine, dann wird er sie sich sehr gut merken. Auch können verschiedene Fähigkeiten in einem Spiel gut integriert werden.
IV: Konditionierung
Das Programmieren eines künstlichen Reflexes nach einem Reiz-Reaktions-Schema nennt man operante Konditionierung. Ein Reiz, wie ein Schlag kommt und die Abwehr wird reaktiv umgesetzt. Wichtig ist, dass der Reiz so realistisch, wie möglich ist. Der Schlag muss schnell und hart erfolgen. Er muss in einer passenden Distanz zu einem richtigen Ziel ausgeführt werden. Wenn die Reaktion zu langsam ist, dann trifft der Schlag mit Wucht. Konditionierung funktioniert über Bestrafung und Belohnung. Der Treffer würde durch Schmerz oder durch Misserfolg bestrafen und der Teilnehmer merkt sofort, dass seine Verteidigung fehlerhaft war. Belohnung kann inhärent durch die erfolgreiche Abwehr oder durch ein Lob des Trainers erfolgen.
Belohnung und Bestrafung müssen in der Übung bereits vorhanden sein. Muss ein Teilnehmer nach jedem ungeblockten Schlag zusätzlich noch Liegestütze machen, dann wird dies den Lernerfolg nicht steigern. Die Ausnahme hiervon ist positive Verstärkung durch Bestätigung von außen bei erfolgreichen Durchläufen. Das ist zwar nicht notwendig, aber verstärkt den Lerneffekt. Wichtig ist, dass beim Konditionieren nicht mehr korrigiert wird. Die zu konditionierende Anwendung muss bereits erlernt worden sein, damit sie zu einem künstlichen Reflex werden kann. Pro Reiz kann nur eine Reaktion programmiert werden, weil eine Reaktion keine Entscheidung beinhaltet.
V: Simulation
Zur effizienten Vorbereitung auf reale Gewalt muss der Kontext und der Verlauf einer Gefahrensituation simuliert werden. Viele Faktoren fließen in physische Auseinandersetzungen mit hinein. Gewalt hat ein Vor- und ein Nachspiel. Jede Verteidigung muss innerhalb dieser Gemengelage funktionieren. Schlagbwehr in einer Simulation zu trainieren würde einen Kontakt in einer realistischen Umgebung, wie einer Kneipe beinhalten. Mit passender Körpersprache erfolgt eine Annäherung und eine Herausforderung. Erst dann kommt der Schlag und die Abwehr kann genutzt werden.
Simulationen können bestimmten Fähigkeiten einen realistischen Kontext bieten oder das Identifizieren und Umsetzen von Lösungsansätzen in der speziellen Situation fokussieren. Innerhalb einer Situation kann trainiert, konditioniert oder integriert werden. Eine Simulation ist eine freie und interaktive Nachstellung einer Gewaltsituation, aber die Übungsform hat eine massive Einschränkung: Der Teilnehmer weiß, was passieren wird.
VI: Szenario
Ein Szenario geht über die Simulation hinaus und ist die akkurateste und umfangreichste Nachahmung realer Gewalt im Training. Im Kern teilen die Simulation und das Szenario die Merkmale der Kontextualisierung, des Realismus und des eigenständigen Lösens des Problems. Im Szenario weiß der Teilnehmer jedoch nicht, was ihn erwartet. Diese Ungewissheit und eine gewisse Überraschung sind Teil jeder echten Gefahr.
Der Teilnehmer bekommt eine Anweisung, wie „Geh die Straße herunter und warte auf den Bus“. Mögliche folgende Situationen können soziale oder asoziale Gewalt abbilden, eine Nothilfeintervention oder Erste Hilfe erfordern. Sie können mit Gewalt, mit Flucht oder mit Worten gelöst werden. Jede Form von Gewalt wird so realistisch, wie möglich nachgespielt. Die Dynamik, die Wortwahl, die Körpersprache und die Härte des Übergriffs gleichen echter Gewalt. Sicherheit ist eine der Hauptfunktionen des Szenarioleiters und Schutzausrüstung ist notwendig. Szenarien sind die komplexe Königsklasse der Selbstverteidigung.
Und was ist mit Drill?
Falls Du schonmal mit Selbstverteidigungstraining zu tun hattest, dann fragst Du Dich vielleicht, ob ich Drilltraining vergessen habe. In meiner Kategorisierung der didaktischen Methodik ist ein Drill keine Übungsform. Jede der Übungsformen, mit Ausnahme des Unterrichts kann gedrillt werden. Ein Drill ist keine eigenständige Übungsform, weil kein spezieller Lerneffekt vorliegt. Ein Drill ist eine Verstärkung der anderen Übungsformen, durch zu Zugabe von körperlichem und mentalem Stress.
Wie immer ist mein Ziel eine Reflexion der Methodik und der Inhalte zu erreichen. Es gibt sehr viele kompetente Trainer und sinnvolle Systeme, aber ich will nicht, dass Du etwas komplett fertiges einfach übernimmst. Überdenke, was unterrichtet wird und wie es unterrichtet wird. Übernimm die Teile, die funktionieren und ersetzte den Rest.