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Strategisches Training erleichtert Selbstverteidigung im Ernstfall

Strukturierte Gewalt – Teil 6: Vier Strategien

Der große Plan

Strategien sind die übergeordneten Linien, an denen sich jede Problemlösung orientiert. Wir wollen eine gefährliche Situation unbeschadet überstehen und Strategien zeigen uns den Weg. Sie sind sehr grobe Ansätze, die in eine konkrete Handlung überleiten. Das ist die Schnittstelle zur Taktik. Strategien sind universell, also können sie in jeder Situation funktionieren. Das stimmt natürlich in der Realität nicht, sobald die Umstände und die Umgebung das eigene Verhalten beeinflussen. Trotzdem sind die Strategien immer die zentralen Linien, die uns in Sicherheit bringen.

Es gibt vier Strategien, sobald eine Situation eskaliert. Vielleicht ist die angreifende Partei schon physisch gewalttätig geworden, vielleicht droht sie noch oder der Übergriff wird vorbereitet. Irrelevant. In dem Moment, wo eine deeskalierende Lösung nicht mehr möglich ist (und manchmal ist das der Start der Konfrontation), muss eine der vier Strategien gewählt werden. Die Umsetzung der Strategie ist auf unzählige Arten möglich und von vielen Faktoren abhängig.

Wozu formulieren wir diese Strategien? Einerseits erleichtert strategischen Denken das Planen unter Stress. Gewalt findet sehr schnell statt. Im Vorfeld abzuklären, welche Auswege existieren, verringert die benötigte mentale Arbeit im Ernstfall. Andererseits erinnern uns Strategien daran, dass wir die Situation beenden wollen. Unser Ziel ist es nicht, am Kampfgeschehen Teil zu nehmen. Wenn ich selbst Gewalt nutzen muss, dann immer nur als Werkzeug und nicht als Selbstzweck. Ein letzter Vorteil ist, dass die Trainingsinhalte klarer werden. Wer nur verletzen und nie flüchten trainiert, der kann Probleme bekommen. Vielleicht sollten andere Inhalte fokussiert werden?

Die vier Strategien der Selbstverteidigung, ohne bestimmte Reihenfolge oder Wertung sind:

  1. Schaden
  2. Distanz
  3. Kontrolle
  4. Duldung

Schaden oder „Zerstöre das Gefahrenpotenzial“

In diesem Bereich findet meistens der größte Teil des Selbstverteidigungstrainings statt. Solange der Rest ebenfalls thematisiert wird, ist dies unproblematisch. In einem Worst-Case-Szenario hilft nur noch Gewalt. Die Verletzung des Gegners in dem Maße, das er nicht mehr fähig ist, eine Bedrohung darzustellen, bedeutet, dass ich in Sicherheit bin. Überspitzt gesagt: Wenn ich den anderen töte, dann kann er mich nicht mehr töten.

Die meisten Fälle sind nicht so extrem. Menschen sind sehr widerstandsfähig und es kann ein enormer Kraftaufwand nötig sein, um genug Schaden anzurichten. Ein gebrochener Arm stoppt keinen motivierten Angreifer. Allerdings sind die wenigsten derart motiviert. Den Willen zu brechen ist einfacher, als Knochen zu brechen. Vielfach geben Menschen auf, sobald sie Schmerzen spüren oder eine Situation unangenehm wird.

Ist der Angreifer sehr willensstark oder in einem alternativen Mentalzustand (z.B. durch Drogenrausch) kann komplette Zerstörung erforderlich sein. Von Knochenbrüchen über Gehirnerschütterungen bis hin zu Blutverlust sind schwere Verletzungen eine Umsetzung der Schaden-Strategie. Wenn Schaden erforderlich ist, dann sollte der Verteidiger stress- und schmerzresistent sein und die psychische Bereitschaft zu schwerer Gewalt aufweisen. Die Situation ist sehr ernst und diese Dinge sollten gut trainiert werden. Pro-Tipp: Sicherheit im Training nicht vergessen.

Distanz oder „Die Zugriffsverweigerung“

Distanzierung ist die beste Selbstverteidigungsstrategie. Wenn Du weit genug von Deinem Angreifer entfernt bist, dann kann er Dich nicht verletzen. Größere Distanz schützt dabei zusätzlich. 100 Meter Abstand unterbinden mehr Aktionen des Angreifers, als ein Meter Abstand. Ein unbewaffneter Angreifer kann Dich bei einem Abstand von etwa zwei Meter nicht direkt angreifen, er müsste sich zuerst auf Dich zu bewegen. Eine Sekunde Vorlaufzeit erleichter die Verteidigung ungemein. Hat der Angreifer einen Schlagstock, braucht man mehr Abstand. Hat er eine Schusswaffe, dann braucht man noch mehr Abstand.

Es geht aber um mehr, als möglichste viele Meter zwischen Dich und den Angreifer zu bringen. Hindernisse schützen immens. Man unterscheidet zwischen dem Brechen der Sichtlinie (Concealment) und Objekten, die auch eine Kugel stoppen würden (Cover). Zusätzliche kann man auch Abstandshalter benutzen. Wenn sich ein Tisch zwischen Dir und Deinem Angreifer befindet, dann wird ein plötzlicher Angriff schwieriger. In Minimum sollte man als Distanzhalter die eigenen Arme einsetzen.

Verbale Taktiken können ein weiteres, emotionales Hindernis aufbauen. Schwere Gewalt geht meistens mit einer Entmenschlichung des Opfers einher und mit dem Angreifer zu sprechen, kann dies kontern. Wie alles, hat auch Distanzierung seine Limits. Im Grundsatz ist Abstand herstellen und Hindernisse aufbauen immer eine gute Idee.

Kontrolle oder „Wer nicht handeln kann, der verletz mich nicht.“

Für die zivile Selbstverteidigung sind Schaden und Distanz die wichtigsten Strategien. Kontrolle ist besonders für Situationen geeignet, aus denen man sich nicht entfernen kann, die aber gleichzeitig keine Verletzung des anderen erfordern. Im Alltag des Durchschnittsmenschen existieren nicht viele solcher Situationen. Der betrunkene Kumpel will Auto fahren und man möchte ihm die Schlüssel wegnehmen. Ein Gast weigert sich, die Wohnung zu verlassen und muss hinausbewegt werden. Wie oft kommt das schon vor?

Kontrolle kann als Taktik sehr gut genutzt werden. Man fixiert den Gegner, um die eigene Flucht oder das Verursachen von Schaden zu erleichtern. Allerdings reicht das Fixieren an sich nicht aus, um in Sicherheit zu gelangen. Der Aggressor ist unverletzt und sobald der Kontrollgriff gelockert wird, befindet sich der Verteidiger noch in Reichweite.

Was für Zivilisten eher nebensächlich ist, stellt die zentrale Strategie für alle professionellen Gewaltanwender dar (zumindest die legalen). Polizisten und Sicherheitspersonal, aber auch Sanitäter oder Pflegepersonal können nicht weglaufen, sollen ihr Gegenüber aber möglichst nicht verletzen. Fixierung im Team und mit Fesselungsmitteln ist sehr viel einfacher, als aus der Perspektive eines Hinterhaltsopfers.

Duldung oder „Manchmal ist Kooperation der einzige Ausweg.“

Über Duldung zu sprechen ist hart. In manchen Situationen kann man nichts machen, als darauf zu warten, dass der Übergriff endet. Im Selbstverteidigungsbereich wird selten über diese Strategie geredet. Als Trainer wollen wir Lösungen anbieten und wir wollen, dass unsere Teilnehmer Gefahren unbeschadet überstehen. Einen Angriff auszuhalten, ist das Gegenteil von unbeschadet überstehen.

Wenn Du von fünf Neonazis in die Ecke gedrängt wirst und sie anfangen auf Dich einzutreten, dann kann die beste Lösung bedeuten, sich zusammenzurollen, den Kopf zu schützen und abzuwarten. Man kann nicht gegen fünf aggressive Menschen gleichzeitig kämpfen. Gegenwehr verstärkt wahrscheinlich die Attacke und erhöht die Chance, tödlich verletzt zu werden. Das Problem ist natürlich, dass Dein Schicksal hier von den Angreifern abhängt.

Duldung kann auch im kleineren Rahmen funktionieren. Beim Raubüberfall Geld und Wertsachen abzugeben, ist eine gute Lösung. Trotzdem duldet man damit den Übergriff in der Hoffnung größere Probleme zu vermeiden. Die Duldung-Strategie sollte nicht zu viel trainiert werden, weil sonst Passivität entstehen kann. Der Trainer muss jedoch aufrichtig genug sein, um klarzustellen, dass nicht jede Gefahrensituation eine gute Lösung hat.

Individuelle Umsetzung trifft spezifische Situation

Strategien geben nur die Richtung vor, nicht wie Du aus einer konkreten Gefahrensituation heil herauskommst. Bist Du in die Ecke gedrängt, dann ist Schaden besser als Distanz. Verfolgt Dich ein Fremder, seit Du aus der Bahn gestiegen bist, dann solltest Du nicht versuchen, ihn in einen Kontrollgriff zu nehmen. Die Art des Angriffs, die Umgebung und Deine Verfassung beschränken die möglichen Lösungen.

Zumindest Deinen Zustand und die räumlichen Verhältnisse kannst Du vor einem Konflikt identifizieren. Mit einem verstauchten Knöchel kannst Du die Distanz-Strategie vergessen. Dann weißt Du, dass Du in der Konfrontation schnellstmöglich Schaden verursachen musst. Deine Entscheidung, was Du tun sollst wurde gerade sehr simpel.

Deckt Dein Training Werkzeuge für jede Strategie ab? Hast Du Lieblingstechniken, um zu verletzen, zu kontrollieren und zu flüchten? Kannst Du erkennen, wann welche Strategie erfolgversprechend ist? Richte Deinen Selbstschutz auf strategisches Training aus, damit Du effizient geschützt bist.

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