Neulich in der U-Bahn
In Hamburg gibt es Züge mit verbundenen Wagons, deshalb kann nach dem Einsteigen durch die U-Bahn gegangen werden. Ich bin vor ein paar Tagen in eine mittel volle Bahn gestiegen und von einem Ende zum anderen gegangen. Teilweise, weil ich am Zielort somit näher am Ausgang war und teilweise aus taktischen Gründen. Vermeidung ist schließlich der beste Selbstschutz und Aufmerksamkeit die beste Taktik dafür.
Ich gehe also durch den Zug und habe mich an eine günstige Position gestellt. Gedeckter Rücken und Überblick. Gleichzeitig konnte ich die anderen Fahrgäste im Vorbeigehen beobachten und einschätzen. Und dabei habe ich einen interessanten Vorgang beobachtet. Zuvor aber eine kurze Warnung: Stichwort Paranoia. Dieses Verhalten ist taktisch nützlich, aber lass Dich nicht verrückt machen. Von Angst getrieben durch die Bahn zu hetzen ist nicht dasselbe, wie im Vorbeigehen Informationen aufzunehmen.
Die ersten 20 Menschen, an denen ich vorbeiging, haben mich nicht bemerkt oder zumindest nicht angesehen. Aber dann ging ich an zwei Herren entlang und ihre Köpfe drehten sich reflexartig und leicht erschrocken zu mir. Die beiden waren gerade dabei, sich einen Joint zu drehen. Die illegale Handlung macht nervös und weckt das Verlangen, die Umgebung zu beobachten. Und exakt diese beiden Merkmale bestimmten ihr Verhalten, das vom Verhalten der anderen Fahrgäste deutlich abwich. Mir war klar, noch bevor ich den Joint gesehen habe, dass ich es hier mit einer Anomalie zu tun habe.
Experten für Normalverhalten
Jeder Mensch beherrscht ein paar grundlegende Fähigkeiten, einen halbwegs durchschnittlichen Erziehungsstand, Genetik und Körperzustand vorausgesetzt. Alle können laufen, reden und lesen, aber nur wenige auf wahrhaft hohem Niveau. Neben den Grundlagen bestehen Spezialisierungen und eine Expertise besitzen wir alle: menschliches Normalverhalten.
Klar, manche Menschen sind durch Trauma oder Krankheit sozial blind und die kulturelle Prägung von Deutschland und Mexiko ist äußerst unterschiedlich, aber Du bist Experte für das Normalverhalten in Deiner Umgebung. Du weißt, wie man die Nachbarn grüßt, wo man sich in der Bahn hinsetzt und wie man Fremde nach dem Weg fragt. Wir gehen andauernd mit anderen Menschen um, interagierend oder beobachtend. Von der Sekunde, in der wir aufnahmefähig waren, haben wir Mama observiert, interpretiert und imitiert.1 Menschen zu verstehen, ist ein evolutionärer Vorteil.
Genau so ist Verhaltensanalyse ein taktisches Werkzeug. Ich meine hier nicht ein psychologisch-medizinisches Gespräch oder das Ausfüllen von Fragebögen, sondern die blitzschnelle Einschätzung eines Menschen durch Intellekt und Intuition. Mir war klar, dass die beiden Typen in der U-Bahn nicht beobachtet werden wollten. Du hattest bestimmt schonmal einen Moment, wo Dir klar war, dass jetzt ein Flirtversuch startet, Dir etwas verkauft werden soll oder der andere Autofahrer Vorfahrt ignoriert.
Deine Erfahrung und Dein Wissen haben ein Muster erkannt und Deine Kognition hat eine Erklärung geliefert. Der Großteil davon lief unterbewusst und rasend schnell ab. Trotzdem kann der Prozess auch bewusst initiiert oder geführt werden. Für eine taktische Gefahrenanalyse müssen wir eigentlich nur Indikatoren für Aggression und Gewalt schulen und dann die eigene Aufmerksamkeit trainieren.
Ein Modell fürs Wahrnehmen
Viele verschiedene Darstellung von Aufmerksamkeit und dem Erkennen besonderer Gegebenheiten existieren. Ich empfehle Patrick van Hornes und Jason Rileys Ansatz2 der Basislinien und Anomalien. Die meisten Menschen verhalten sich normal. „Normal“ ist hierbei keine moralische Wertung, stattdessen ist gemeint, die meisten Menschen verhalten sich routinemäßig, angepasst an ihre Umwelt und so wie die Mitmenschen. Ab und zu sticht ein Individuum aus der Masse heraus und das ist eine Anomalie.
Was normal ist, ist kontextabhängig. Du verhältst Dich anders im Büro, im Supermarkt und in der Kneipe, aber Du hast für alle drei Orte sofort ein Bild vor Augen, wie es dort aussieht. Wie laut/leise es ist, wie viele Menschen dort sind, wie eng die Leute beieinander stehen, wie miteinander gesprochen wird, und so weiter. Damit könntest Du auch sofort eine Anomalie identifizieren. Wer leise ist, wenn alle herumschreien oder wer eng ran kommt, wenn alle Abstand halten, der ist eine Anomalie. Anomalien können mehr machen als der Rest oder auch weniger, aber sie verhalten sich anders, als die Masse.
Damit kannst Du noch nicht wissen, erstens, ob die Anomalie mit Dir zu tun hat und zweitens, ob die Anomalie auch eine Gefahr darstellt. Noch einmal, jede Interpretation ist kontextabhängig. Die beiden Kiffer in der U-Bahn waren harmlos. Trotzdem waren sie eine Anomalie und sind mir aufgefallen. Hätte gerade einer der Beiden den anderen abgezogen, dann wäre Nervosität, Angst und reflexhaftes Umsehen auch aufgefallen. Basislinien und Anomalien helfen Dir Dinge zu bemerken, aber zum Interpretieren brauchst Du eine Matrix mit Indikatoren. Welche Verhaltensweisen weisen auf Gefahren hin? Und dann brauchst Du noch die entsprechenden taktischen Fähigkeiten, um mit dem Problem umzugehen. Aufmerksamkeit ist nicht alles, aber sie gibt Dir einen guten Start.
Quellenverzeichnis:
- Mary Gregory: What does the ‘still face’ experiment teach us about connection? https://www.psychhelp.com.au/what-does-the-still-face-experiment-teach-us-about-connection/ (29.03.2022).
- Patrick van Horne, Jason A. Riley: Left of Bang. How the Marine Corps‘ Combat Hunter Program Can Save Your Life, New York 2014.