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Gewaltdynamik – Teil 1: Ein gesellschaftliches Problem

Das neue Leid

Every society has a blindspot, an area into which it has great difficulty looking. Today that blindspot is killing. A century ago it was sex. 1

Dave Grossman: On Killing.

Grossman stellt in seiner bahnbrechenden Untersuchung über das Töten einen mentalen Bruch fest. Obwohl die Kernaufgabe eines Soldaten das Töten ist, sind die allermeisten Menschen emotional nicht dazu in der Lage. Was auf der Mikroebene für Gewalt in Kampfeinsätzen gilt, greift auf Makroebene für allgemeine Gewaltanwendung. Soldaten lernen eine Profession, deren Handwerk auf Gewalt spezialisiert ist.

Gewalt gegen andere Menschen einzusetzen, ist hart. Wir sind eine soziale Spezies, deren Überleben von Kooperation und Koexistenz abhängt. Deshalb haben wir interne, emotionale Mechanismen, die Gewalt und ganz besonders extreme Gewalt gegen andere Menschen blockiert. Nicht alle Menschen sind gleich. Manchen fällt Gewalt leichter, ob dies an Genetik oder Sozialisation liegt, ist nicht wichtig. Und natürlich sind wir auch eine gewalttätige Spezies. Aggression und Kampf waren immer ein Teil unserer Natur und werden es auch immer bleiben, aber den absoluten Großteil der Zeit ist der absolute Großteil der Menschen friedlich.

Wenn Du Selbstschutz lernen möchtest, damit Du auf Gewaltsituationen vorbereitet bist, dann ist dies ein Problem. Es gibt verhältnismäßig wenig Gewalterfahrung und viel Gewalthemmnis. Trotzdem ist Gewalt ein Teil Deiner Natur. Jetzt greift die Gewalt-Sex-Analogie. Sex ist ein elementarer Bestandteil der menschlichen Spezies, ohne Sex keine Fortpflanzung. Vor 100 Jahren gab es keine freie Information und kein „Training“ für sexuelle Fragen. Ungewollte Schwangerschaften, Krankheiten und psychischer Stress lassen sich durch Aufklärung massiv minimieren. Erst recht seit der Entwicklung von Verhütungsmitteln.

Heutzutage ist sexuelle Bildung der akzeptierte Standard und quasi alle Menschen sind gut informiert und können gute Entscheidungen treffen. Aber was Gewalt angeht, ist die Aufklärungsrate vergleichbar mit Sex vor 100 Jahren. Um wirklich auf Gewalt vorbereitet zu sein, brauchst Du Aufklärung über Gewalt.

Zwischen Tabu und Romantisierung

Jetzt entsteht vielleicht kognitive Dissonanz², die Unvereinbarkeit gegensätzlich bewerteter Wahrnehmungen, Emotionen oder Informationen. Ich habe gerade postuliert, dass keine Aufklärung über Gewalt stattfindet. Du wirst jedoch Vorstellungen und Erwartungen über Gewalt in Deinem Kopf haben. Nur weil es keine Aufklärung im Sinne einer kritischen und realistischen Vermittlung unvoreingenommener Information gibt, bedeutet es noch lange nicht, dass keine Ansichten über Gewalt in unserer Gesellschaft verbreitet werden.

Ein kleiner Einschub: Es gibt auch in den reichen und sicherer Staaten der ersten Welt Menschen, die tief greifende Erfahrungen und detailliertes Wissen über Gewalt besitzen. Im Gegensatz dazu besitzen die meisten keine Erfahrung und beziehen ihr Wissen aus fragwürdigen Quellen. Das ist kein Vorwurf, weil dies nicht mit Absicht passiert. Aber Du musst Deine Ansichten hinterfragen, wenn Du einen realistischen Umgang mit Gewalt erlernen möchtest.

Gibt es Gewalt an Schulen? Definitiv und die meisten Vorfälle sind innerhalb der Schülerschaft.³ Es existiert auch eine Unmenge an Programmen, mit deren Hilfe die Aggression gesenkt werden soll. Diese Liste4 zählt 53 verschiedene Initiativen auf. Keinesfalls soll diese Auszählung Vollständigkeit vermitteln. Auch sind die aufgeführten Maßnahmen extrem divers. Teils spezifisch auf deutsche Schulen zugeschnittene Programme, teils allgemeine Präventionsmethoden, teils staatlich-polizeiliche Herangehensweisen und teils private Initiativen. Ich will nur die Vielfalt und den Willen aufzeigen mit dem Gewaltproblem unter Kindern und Jugendlichen Umzugehen. Wie viele dieser Initiativen lehren Gewaltkompetenz statt Vermeidungsstrategien?

Da ich nicht alle diese Programme kenne, stelle ich einfach die Behauptung auf, dass keines davon den Umgang mit Gewalt lehrt. Die Themen werden Vermeidung, Deeskalation, Gesprächsführung, Hilfestellung oder Emotionsmanagement sein. Alle diese Aspekte sind wichtig, aber sie müssen durch Gewaltkompetenz ergänzt werden. Ich sehe durchaus die Schwierigkeit, an staatlichen Schulen Minderjährigen ein realistisches Gefühl für Gewalt zu vermitteln. Sexuelle Aufklärung funktioniert auch nicht, wenn nur Beziehungen erklärt werden.

Im krassen Gegensatz zur Gewalt-Enthaltsamkeit unserer Gesellschaft steht die popkulturelle Inszenierung von Gewalt. In jedem Kinofilm darf der Held ungestraft den Bösewicht und seine Handlanger zusammenschlagen oder sogar töten. Diese Gewalt wird nicht sanktioniert, sondern als angebracht und gerechtfertigt dargestellt. Emotionale Traumata und physische Verletzungen als Konsequenz von Gewalt werden höchsten angekratzt, bekommen aber nie das richtige Gewicht. Gewalt bleibt nicht nur ohne Konsequenz, sie wird sogar belohnt. Der Held bekommt Anerkennung, eine Beförderung oder die hübsche Frau am Ende.

Kampfszene aus James Bond: Casino Royale 20065

Daniel Craigs Variante von James Bond ist eine düstere und etwas realistischere Interpretation der Figur. Natürlich hat 007 die berühmte Lizenz zum Töten und ist ein sehr erfahrender Gewaltanwender. Trotzdem illustriert die Szene schon die mediale Verherrlichung von Gewalt: Erst küssen, dann kämpfen. Den ersten Gegner direkt umgebracht. Zwischendurch die schöne Frau gerettet und dann am Ende den zweiten Gegner einfach umgebracht. Keine Spur von emotionalen Problemen. OK, Bond hat damit vielleicht keinerlei Probleme, aber Vesper Lynd (Eva Grenn) steckt das auch locker weg? Und natürlich verliebt sie sich in Bond, immerhin ist Töten so richtig sexy.

Die mediale Verherrlichung von Gewalt ist genauso problematisch, wie das gesellschaftliche Ignorieren. Um mit der Sex-Analogie zu sprechen: Wenn in der Schule Sex verteufelt wird, aber im Fernsehen nur Pornos laufen, dann muss man sich nicht wundern, wenn ein kaputtes Verhältnis zur Sexualität entsteht. Die Analogie hat durchaus auch ihre Fehler. Sex ist etwas Positives, dass einige Nachteile beinhaltet, deren man bewusst sein muss. Gewalt hingegen ist etwas Negatives, dass für bestimmte Situationen etwas Positives beinhaltet. Gewalt braucht Aufklärung ohne Verzerrung.

Ist Gewalt eine Lösung?

„Gewalt ist keine Lösung“, so oder ähnlich haben die meisten als Kinder den Umgang mit Gewalt kennengelernt. Ergibt das überhaupt Sinn oder ist dies nur ein Teil der Tabuisierung von Gewalt in unserer Gesellschaft? Wenn alle Probleme mit Gewalt gelöst werden, dann regiert der Stärkste. In einer Demokratie ist die Hauptaufgabe, die Schwachen zu schützen, damit sie gleichberechtigt teilhaben können. Gewalt als Lösung widerspricht unserem Staatsbegriff.

In jedem Konflikt stehen verschiedene Interessen einander gegenüber. Mit welchem Recht und mit welcher Methode wird bestimmt, welches Interesse wichtiger ist? Nur der Rechtsstaat kann einigermaßen garantieren, dass niemand benachteiligt und entrechtet wird. Dafür muss der Staat in der Lage sein, dass Recht durchzusetzen. Praktisch begründet diese Überlegung das Gewaltmonopol des Staats. „Gewalt ist keine Lösung“ ist ein Teil der Erziehung zu einem funktionalen Teil der Gesellschaft. Der komplette Satz wäre „Gewalt ist keine Lösung, aber Polizei und Gericht.“

Nicht jeder Mensch akzeptiert die Rechte anderer und respektiert die staatliche Organisation der Gesellschaft. Kriminelle brechen die Gesetze zu ihrem eigenen Vorteile basierend auf dem Schaden anderer. Ein Dieb bereichert sich, indem er das Eigentum eines Menschen senkt. Keine Polizei, kein Gericht und kein Staat dieser Welt kann einen Menschen daran hindern, Macht über einen anderen Menschen auszuüben. Es kann erschwert, aufgeklärt und bestraft, aber nicht verhindert werden. Wenn ein Krimineller bereit ist Gewalt für seine Ziele auszuüben, dann kann auch nur Gewalt ihn stoppen. Manchmal funktioniert Deeskalation, Verhandlung, Ablenkung oder Distanzierung auch bei den stärksten Intentionen zur Gewaltausübung, aber in den schlimmsten Momenten kann einzig Gewalt Gewalt stoppen.

Du musst Gewalt und Verbrechen verstehen, um darauf reagieren zu können. Für dieses Verständnis musst Du Deine bisherigen Ansichten hinterfragen und ergänzen. Eine realistische und objektive Analyse ist die Grundlage des Selbstschutztrainings. Wir werden verschiedene Formen von Gewalt untersuchen und verschiedene Methoden betrachten, aber zuerst musst Du Deinen bisherigen Blick auf Gewalt verstehen.


Quellenverzeichnis:

  1. Dave Grossman: On Killing. The Psychological Cost of Learning to Kill in War and Society, 2009.
  2. Werner Stangl: Kognitive Dissonanz. In: Online Lexikon für Psychologie und Pädagogik, https://lexikon.stangl.eu/755/kognitive-dissonanz/ (28.07.2020).
  3. Vergleiche:
    Gewalt an Schulen nimmt zu. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, https://www.faz.net/aktuell/karriere-hochschule/statistik-der-kriminalaemter-gewalt-an-schulen-nimmt-zu-15703990.html 2018 (28.07.2020).
    Untersuchung zur Gewalt an Schulen. In: News4teachers, https://www.news4teachers.de/2019/12/gewalt-an-schulen-ein-tabuthema-allermeistens-sind-die-taeter-maennlich/ 2019 (28.07.2020).
  4. Liste von Projekten und Programmen Gewaltprävention/Soziales Lernen. In: Wikipedia https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_von_Projekten_und_Programmen_Gewaltpr%C3%A4vention/Soziales_Lernen 2020 (28.07.2020).
  5. Kampfszene aus James Bond: Casino Royale 2006 https://www.youtube.com/watch?v=iaLK3cI-CyI (28.07.2020).

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