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Selbstschutz definiert – Teil 1: Sicherheit vs. Schutz

Eine verlockende Illusion

Die meisten Menschen, die ihre Zeit und ihr Geld ins Selbstschutztraining investieren, wollen ein sicheres Leben führen. Jedenfalls nehme ich das an, basierend auf meiner Erfahrung. Ein sicheres, angstfreies Leben erscheint sehr verlockend und erstrebenswert. Keine Gefahr kann Dir etwas anhaben. Wenn man nur sicher genug wäre, dann könnte man das eigene Leben so richtig genießen. Ich glaube, dass jeder Mensch, mal mehr, mal weniger solchen Gedanken nachhängt. Aber sie basieren auf einer Illusion. Sicherheit ist unmöglich. Alle Menschen müssen irgendwann sterben, jeder Einzelne hat in seinem Leben schon Verletzungen erfahren. Es ist völlig, absolut egal, was Du tust, irgendwann wirst Du zerbrechen. Die Verletzlichkeit und Endlichkeit des Lebens ist ein Fakt, den wir alle akzeptieren müssen. Sicherheit ist totale Gewissheit. So etwas existiert nur im Abstrakten. 1 + 1 = 2. Das ist sicher, es gibt keine andere Möglichkeit. In unserer Alltagsrealität ist eine solche Gewissheit unmöglich. Das liegt zum Teil in der Komplexität. Es gibt dermaßen viele Faktoren, dass eine Berechnung unmöglich ist. Zusätzlich verschärft unsere mentale Struktur das Problem, weil unser Bewusstsein nur Dinge berücksichtigen und verstehen kann, die uns bekannt sind. Unbekanntes können wir logischerweise auch nicht beachten. Wenn Sicherheit unrealistisch ist, warum sollte man sich überhaupt mit Gefahr beschäftigen?

Rein praktisch gesprochen, können in einer bestimmten Gefahrensituation bestimmte Gegenmaßnahmen getroffen werden. Entweder sind die Maßnahmen erfolgreichen und schützen vor der Gefahr oder sie sind es nicht. Der zentrale Unterschied ist zwischen Sicherheit und Schutz. Vor Problemen kann man sich schützen, indem das Problem verstanden wird und man geeignete Lösungen sucht. Das bedeutet nicht, dass kein Problem existiert oder einem nichts passieren wird. Es bedeutet nur, dass die Wahrscheinlichkeit geschädigt zu werden, verringert ist. Während Sicherheit ein Absolut ist, zielt Schutz nur auf die besten Chancen und das geringste Risiko ab. Du musst Dir aber unmissverständlich bewusst machen, egal, was Du tust, sagst, denkst, egal, wo Du bist und wer sich dort noch aufhält, es kann immer etwas passieren. Das klingt jetzt sehr pessimistisch oder sogar fatalistisch, aber ich möchte nur unnütze Fantasien vertreiben, um mich auf das wichtige zu konzentrieren. Wenn wir als das oberste Ziel vom Selbstschutz das maximale Verlängern des Lebens verstehen, dann müssen wir folgendes herausfinden.

Was ist gefährlich?

Wer Selbstverteidigung trainiert, hat oftmals Sorgen, angegriffen und verletzt zu werden. Ist die Lösung für zwischenmenschliche Gewalt überhaupt relevant, wenn man das eigene Leben verlängern möchte? Um ehrlich zu sein, ist es aus dieser Perspektive vernachlässigbar. Die gezeigte Statistik listet die Menschen nach Todesursache auf, die 2017 in Deutschland verstorben sind. Für den Einzelfall ist die Statistik unwichtig. Wenn Du gerade von einem Drogensüchtigen überfallen oder von Deinem Ex-Partner angegriffen wirst, dann spielt es keine Rolle, wie viele Menschen an Krebs gestorben sind, jetzt bist Du in unmittelbarer Gefahr. Aber die Statistik vom Projekt Our World in Data der Universität Oxford zeigt zweifelsfrei, wie selten solche Ereignisse sind im Vergleich zu anderen Todesformen.

Die Studie Global Burden of Disease, die in der medizinischen Fachzeitschrift The Lancet seit 1990 publiziert wird. In der Studie werden weltweit die Todesursachen erfasst und nach Jahr, Land und Ursache aufgeschlüsselt. Aus der Übersicht lassen sich fundamentale Rückschlüsse ziehen. 2017 starben 922591 Menschen in Deutschland, wovon 893955 an Krankheiten oder medizinischen Notfällen starb. Das sind ca. 97 %, mit einer überwiegenden Mehrheit von Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Krebs als Ursache. Selbstverletzendes Verhalten, wie Alkohol- und Drogenmissbrauch und Suizide führten zu 20737 weiteren Todesfällen oder 2,2 %. Der bedeutsamste Posten, wo der Tod durch eine andere Person herbeigeführt wird (zumindest teilweise), ist mit 4716 Toten der Straßenverkehr.

Nur 0.07 % der Todesfälle werden als „Homicide“ geführt, worunter wahrscheinlich Mord, Totschlag, Körperverletzung mit Todesfolge und andere Tötungsdelikte fallen. Selbst, wenn wir Verkehr, Feuer, Vergiftungen, Ertrinken, Mangelernährung, Erfrierungen, Terrorismus und Naturkatastrophen dazurechnen, bleibt der Anteil der Todesfälle mit externen Ursachen extrem niedrig: 0,85 %! Sich mit zwischenmenschlicher Gewalt zu beschäftigen, scheint nicht zielführend zu sein, wenn man das eigene Leben verlängern möchte.

Schauen wir uns als Vergleich die Daten des Statistischen Bundesamtes an:

Auch wenn sich die Gesamtzahlen, sowie die einzelnen Anteile geringfügig unterscheiden, was vermutlich auf unterschiedliche Quellen und Zählweisen zurückzuführen ist, bestätigen sich die Grundannahmen. Mit 61,4 % dominieren das Kreislaufsystem und Krebs bei den Ursachen während 4,3 % explizit auf externe Ursachen hindeuten. Die Verletzungen beziehen sich primäre auf Unfälle, wie z.B. Stürze und nicht auf gewalttätige Auseinandersetzungen. Das bedeutet, jegliche Gewalt versteckt sich im Sonstigen. Für 2017 verzeichnet das Statistische Bundesamt 538 Fälle von Mord und Totschlag. Zusätzlich zu den gestorbenen Menschen werden weitere Gewaltdelikte aufgeführt: 41802 Körperverletzungen und 18993 gefährliche und schwere Körperverletzungen.1 Damit wird eine wichtige Dimension eingeführt, weil auch ohne Todesfolge kann Gewalt deutliche Folgen haben. Ich möchte euch eine letzte Statistik zeigen, um die Folgeeffekte zu verdeutlichen. Neben verlorenem Leben werden auch die Überlebenden von Krankheit, Unfall und Gewalt stark in ihrer Existenz eingeschränkt.

Um die Gesamtheit der Umstände miteinzubeziehen, wird in dieser Überlegung die Recheneinheit „Disability-Adjusted Life Years“ oder DALY eingeführt. Jedes DALY entspricht einem verlorenen Lebensjahr, egal ob früher Tod, eine dauerhafte Behinderung oder chronische Krankheit ursächlich sind. Wer nach einem Schlaganfall nicht mehr sprechen kann, nach einem Autounfall im Rollstuhl sitzt oder nach einem Stich in die Niere dauerhaft zur Dialyse muss, der kann sein Leben nicht mehr maximal entfalten. Jede Schutzmaßnahme muss diese Kofaktoren berücksichtigen und nicht nur Todesursachen betrachten.

In der gesamten Gefährlichkeit erkennt man die Wichtigkeit, sich mit Selbstschutz zu befassen. Die Relativierung im Hinblick auf Kreislaufkrankheiten und Krebs demonstriert, dass Letalität eines Phänomens nicht mit der Härte der Folgeeffekte korreliert. Ebenfalls wird der drastische Einfluss zwischenmenschlicher Gewalt, trotz des geringen Faktors an der Todesrate deutlich: fast 51000 verlorene Lebensjahre. Letztendlich bleibt Selbstschutz, wenn man die Verlängerung des Lebens in den Mittelpunkt stellt, nicht auf Gewalt ausgerichtet.

Lebensverlängerung in zehn Schritten

Du willst sicher sein und ein langes Leben haben? Warum willst Du dann lernen, Dich gegen einen gewalttätigen Angriff zu verteidigen? Das ist quasi überflüssig, wenn Du nicht richtig Pech hast. Hier sind zehn simple Schritte, die eigentlich jeder jetzt sofort machen kann, um das eigene Leben zu verlängern.

  1. Nicht rauchen: Selbsterklärend, oder nicht? Krebs ist eine führende Todesursache und Rauchen ist eine führende Krebsursache.
  2. Nicht trinken: Alkohol ist ein Gift für unseren Körper, dass nicht nur zu Beziehungsproblemen und Autounfällen führt, sondern auch massiv die Lebenserwartung senkt. Die Stichwörter sind: Leberschaden, Gehirnschaden, diverse Krebserkrankungen, Bluthochdruck, Entzündungen des Herzmuskels, der Bauchspeicheldrüse und der Magenschleimhaut, sowie Depression und Übergewicht.
  3. Zucker reduzieren: Übergewicht ist ein langsamer Killer, besonders in wohlhabenden Gesellschaften. Die Hauptsorgen sind Diabetes und Herz-Kreislauf-Störungen.
  4. Ausgewogene Ernährung: Siehe oben.
  5. Ausdauersport: Regelmäßige Bewegung verhindert Übergewicht und besagte Herz-Kreislauf-Probleme.
  6. Viel Wasser trinken: Gute Hydrierung kann viele gesundheitliche Probleme verhindern. Zwei bis drei Liter pro Tag lassen den Körper erst richtig arbeiten.
  7. Mentale Gesundheit: Depression ist die häufigste Ursache für Suizid. Selbst in geringer Intensität können psychische Krankheiten das eigene Leben zerstören. Rede mit Freunden und such professionelle Hilfe. Hilfe anzunehmen bedeutet Stärke.
  8. Stress vermeiden: Dauerstress ist ein Zellgift, welches zum tatsächlichen Absterben von Hirnzellen führen kann. Das verstärkt diverse gesundheitliche Probleme. Viel Schlafen und eine gute Lebensbalance sind wichtig.
  9. Vernunft im Verkehr: Sollte eigentlich nicht gesagt werden müssen. Fahr vorsichtig, nüchtern, aufmerksam und rücksichtsvoll.
  10. Nichts Dummes tun: Menschen können extrem dumm sein und dumme Menschen werden leicht verletzt.

Nichts auf dieser Liste sollte überraschend sein. In aller Wahrscheinlichkeit hast Du diese Sachen schon oft gehört, das meiste davon von Deiner Mama. Jeder hat in der Hand diese Maßnahmen zu ergreifen und diese Maßnahmen werden Dein Leben definitiv verbessern, aber ich definiere Selbstschutz anders. Die reine Verlängerung des Lebens, auch nicht inklusive Folgeeffekte ist kein Selbstschutz. Guck Dir noch mal Abbildung 1 an: Welche der Todesursachen unterscheiden sich qualitativ von den anderen? Es gibt zwei entscheidende Faktoren und die Gefahrensituationen, mit denen sich der realistische Selbstschutz beschäftigt, umfassen beide. Hast Du eine Idee, was ich meine? Denk nach bevor Du weiterliest.


Quellenverzeichnis:

  1. Verurteilte: Deutschland, Jahre, Art der Straftat. Im: Statistischen Bundesamt, https://www-genesis.destatis.de/genesis/online?sequenz=tabelleErgebnis&selectionname=24311-0001&sachmerkmal=STAT01&sachschluessel=STGBOV-32,STGBOV-33,STGBOV-34 (14.05.2020).


Abbildungsverzeichnis:

  1. Max Roser, Hannah Ritchie: Homicides. In: Our World in Data, https://ourworldindata.org/homicides (14.05.2020).
  2. Todesursachen. Im: Statistischen Bundesamt, https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Gesundheit/Todesursachen/_inhalt.html (14.05.2020).
  3. Max Roser, Hannah Ritchie: Burden of Disease. In: Our World in Data, https://ourworldindata.org/burden-of-disease (14.05.2020).

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